VII. Probe

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Wie versprochen ging es nach einem kurzen Stopp in seiner Werkstatt, die ich mir wesentlich pompöser vorgestellt hatte, als sie im Endeffekt war, zu Frida. Wir kamen in einem unscheinbar aussehendem Backsteinhaus vorbei, an dem ich sicherlich im Normalfall einfach vorbeigegangen wäre, aber drinnen in der zweiten Etage eröffnete sich ein riesiger offener Raum mit verschiedensten Künstlern. Sie ließen sich gar nicht groß ablenken davon, dass Javier jeden Einzelnen grüßte und machten schnell wieder ihre Arbeit weiter. Nur einige schienen vollkommen verblüfft und aufgeregt von der Präsenz des Javier Sorní. Doch auch das hielt sich in Grenzen.

Durch die nächste Tür kamen wir dann in noch einen großen Raum, wobei hier in der Mitte eine riesige Papaya und ein Kaktus standen, die anscheinend zu irgendeiner Szene gehörten.

Musik spielte dramatisch von einem kleinen Orchester, während das Licht gedimmt wurde. Die Silhouette von Ernesto de la Cruz erhob sich langsam auf einer Plattform in die Höhe, doch als das Licht dann wieder angeschaltet wurde, war es nur eine Statue von ihm.

Mein Ur-Uropa murmelte nur irgendwas wie „Typisch" neben mir, bevor er wieder sein Grinsen aufsetzte und überschwänglich Frida begrüßte, die anscheinend für das Programm mit der Papaya und dem Kaktus verantwortlich war. Natürlich ließ es sich Javier nicht nehmen, mich ebenfalls überschwänglich vorzustellen, obwohl er genau genommen nichts sagte, außer meinen Namen und dass wir verwandt waren. Als meine Wenigkeit wieder in den Hintergrund der Konversation gerückt war, bemerkte ich jemanden hinter Frida, der eigentlich gar nicht hier sein sollte.

Da Javier und Frida gerade sehr tief in ihrer Konversation waren, ging ich einfach auf den Jungen zu, der seit dem letzten Mal, als wir uns gesehen haben, sich das Gesicht wie ein Skelett angemalt hatte.

"Solltest du nicht schon wieder zu Hause sein?", fragte ich, woraufhin Miguel zusammenfuhr und sich erschrocken umdrehte. "Gott! Hast du mich erschrocken." Er legte sich eine Hand auf die Brust und atmete durch, während ich nur die Hände vor dem Körper verschränkte und wartete, bis er antwortete.

Als er mich wieder ansah, kratzte er sich am Hinterkopf und grinste schief. "Lange Geschichte." Erst jetzt bemerkte ich seine Finger. Im Gegensatz zu seinem Gesicht, was offensichtlich geschminkt war, sahen seine Finger aus wie meine. Durchschimmernde Haut, sodass die Knochen sichtbar waren. "Und du hast keine Zeit", murmelte ich und deutete auf seine Finger. "Warum holst du dir nicht den Segen deiner Familie?" "Na ja, kurz gefasst bekomme ich nur den Segen, wenn ich die Musik für immer aufgebe, weshalb ich jetzt nach De la Cruz suche."

Fragend legte ich den Kopf schief. "Ich glaube, mir fehlt ein Kapitel. Warum musst du zu De la Cruz? Also ja, du bist sein Fan, aber du hast gerade größere Sorgen."

Schnell kramte er aus seiner Hoodietasche ein altes Foto heraus. Es zeigte seine Ur-Uroma sowie ihren Mann, wobei sein Gesicht abgerissen war, und Coco als Kind. Doch dieses Bild kannte ich schon. Den Teil, den ich nicht kannte, war, dass sein Ur-Urgroßvater eine De la Cruz Gitarre in der Hand hielt, die erstaunlich echt aussah. "Ich muss mir seinen Segen holen, denn er wird mir nicht die Musik verbieten."

Während er das Bild wieder einsteckte, wirkte er so glücklich, dass ich mich ein wenig schlecht fühlte, seinen Enthusiasmus nicht zu teilen. Mein Realismus ist nämlich ein wenig anderer Meinung als er. "Aber Ernesto macht irgendwo am anderen Ende der Stadt eine exklusive Party. Da kommst du nicht rein, bis die Sonne aufgeht." Mit einer geschwungenen Bewegung deutete ich aus dem großen Fenster in Richtung der riesigen Lichtshow, die von der Exklusivparty des Abends ausging. Die Lichter hatte ich jedes Jahr schon gesehen; sie waren immerhin nicht zu übersehen, aber erst durch Javier hatte ich heute erfahren, wozu sie gehörten.

Miguel folgte meinem Blick nach draußen und schien etwas deprimierter als vorher, als plötzlich ein etwas klapprig aussehendes Skelett in den Raum hineingerannt kam. "Kumpel! Du kannst mich doch nicht so stehen lassen. Und belästige nicht die Promis." Er nahm Miguels Arm und zog ihn einige Schritte weg, doch Miguel riss sich schnell aus dem Griff. Kurz sah ich zu Javier, der den Mann etwas fragend musterte. Wenn ich den Blick richtig deutete, versuchte er gerade herauszufinden, woher er den Mann kannte. Frida schien sich nicht wirklich dafür zu interessieren.

"Du meintest, mein Ur-Uropa sei hier, aber er schmeißt am anderen Ende der Stadt 'ne fette Party", beschwerte sich Miguel gleich bei ihm. "Dieser Faulpelz. Wer schwänzt seine eigene Probe?" "Wenn ihr so gute Freunde seid, warum lädt er dann nicht dich ein?", fragte dann Miguel und stemmte die Hände in die Hüften. "Er ist dein Ur-Uropa! Warum lädt er dann nicht dich ein?" Schnell drehte sich der Mann um und sprach zu einem Typen aus dem Orchester. "Hey, Gustavo! Weißt du was von dieser Party?"

Während die beiden sich unterhielten, ging ich wieder zu Miguel. "Wer genau ist das?" Schulterzuckend meinte er nur "Héctor, er sollte mich eigentlich zu Ernesto bringen, weil er ihn so gut kennt, aber du siehst ja, wohin das geführt hat."

Ich summte, während ich überlegte. Javier hatte vorhin irgendwas davon erzählt, wie man an eine Karte kommt. "Du könntest am Talentwettbewerb teilnehmen. Der Gewinner bekommt eine Karte zur Party, hat mein Ur-Uropa gesagt."

"Javier Sorní? Können wir nicht einfach mit seiner Karte rein?", fragte Miguel, während er sich die Hand in den Nacken legte, mit einem Gesichtsausdruck, als würde er die Talentshow um jeden Preis vermeiden wollen.

"Ich habe meinen Namen gehört?" Erschrocken zuckte ich leicht zusammen, als Javier seinen Arm um meine Schulter schwang. "Ich glaube, du hast mir deinen Freund bisher nicht vorgestellt." Miguel setzte gleich ein Lächeln auf und streckte seine Hand heraus, während er sich vorstellte. Ob er das jetzt machte, weil er ein Fan von De la Cruz ist oder weil er sich eine Chance auf das nicht existierende Ticket erhoffte, weiß ich nicht. Aber, wie schon gesagt, mein Ur-Uropa hat keine Eintrittskarte. Er hatte noch nie eine bekommen, aber auch er weiß nicht, wieso. Allerdings nimmt Javier es Ernesto auch nicht übel, weil er ihn nicht wirklich so gut gekannt hatte. Er hat ihm eben nur die Gitarre gemacht. Zumindest sagt er das.

Doch als er mir das vorhin erzählt hatte, sah er nur in die Ferne. Eigentlich ist Javier der Typ, der dich immer ansieht, wenn er mit dir redet, selbst wenn er läuft. Vielleicht war er aber auch einfach nur melancholisch.

Das Gespräch zwischen Javier und Miguel führte im Endeffekt zu dem gleichen Schluss, wie erwartet. Javier hatte keine Karte, die er Miguel hätte geben können.

Mein Ur-Uropa entschuldige sich noch bei Miguel, bevor er meinte, dass wir weitergehen müssten. Ich drehte mich noch zu Miguel und fragte, ob er Hilfe bräuchte, doch er winkte nur ab. "Wir sehen uns morgen", sagte er nur, während Javier und ich zum Ausgang gingen.

Als die Tür hinter uns zufiel, ließ Javier von mir los und sah mich fragend an. "Der Kleine ist wie du, oder?" Ich war überrascht und man schien es mir wahrscheinlich auch anzusehen, denn Javier sprach gleich weiter. "'Wir sehen uns morgen'? Das funktioniert nur, wenn ihr beide morgen wieder lebt. Und Ur-Uropa? Ich wusste nicht, dass Ernesto Kinder hat? Ich bezweifle, dass er welche hatte. Er wollte zumindest nie welche."

"Ja, Miguel ist hoffentlich morgen wieder lebendig. Wenn er den Segen hat, ist er es. Und ich dachte, De la Cruz und du kanntet euch nicht? So etwas wird man wohl kaum einem Fremden erzählen." Ein ertapptes Lachen entfuhr ihm, bevor er sich räusperte und in die Ferne sah. "Na ja, ein-, zweimal haben wir schon miteinander gesprochen."

Die Stille, die danach eintraf, war von mir präzise gewählt und es dauerte gar nicht lange, bis mich Javier aus dem Seitenblick ansah. "Hör auf damit."

"Womit?" "Mich zum Reden zu zwingen." Er mochte Stille nicht, das hatte ich in den letzten Stunden oft gemerkt. "Dann erzähl mir, was du mir über De la Cruz verschweigst. Ich merke doch, dass da noch etwas ist."

Forschend sah er mich an, doch im Endeffekt knickte er ein und erzählte.


Halbtot (Älterer Miguel Rivera - Coco)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt