Emilia ran wie angestochen durch die Stadt, ihre Gedanken ein wildes Durcheinander. Wie war sie überhaupt auf die Idee gekommen, dass ihre Mutter nur einmal Dankbarkeit zollen würde? Die Dynamik zwischen ihnen war wohl eher ein Nehmen als ein Geben. Und das noch als Mutter, wobei das heutzutage auch nicht mehr viel bedeutete. Natürlich konnte man sich nach wie vor über die Gründe wundern, weshalb Emilia ausgerechnet in den Armen Lydias landete, aber Corinna war der perfekte Beweis dafür, dass Emilia keine andere Wahl hatte, als die Aufmerksamkeit älterer Frauen zu suchen, in ihrer Attraktivität gefangen zu sein. Nur so konnte sie all die Jahre überleben. Emilia sah die Welt vor lauter Bäumen nicht, taumelte im Tunnelblick, prallte aber hart gegen etwas Weiches und beinahe zu Boden. Sie blickte erschrocken nach unten und sah ein kleines, schätzungsweise achtjähriges Mädchen mit großen, waldgrünen Augen, das sie überrascht anstarrte. Oh Mist, tut mir leid!", stammelte Emilia und half dem Mädchen, das Eis aufzuheben, das auf den Boden gefallen war. Ich hab' dich nicht gesehen.", wäre sie nicht vollkommen aus dem Häuschen gewesen, hätte sie sie mit höchster Alarmbereitschaft umkreist. Ihr regenbogenfarbenes Kleid, welches mit rosa Rüschen bestückt war, konnte wohl niemand übersehen. Das Mädchen wirkte genauso erschrocken wie Emilia, aber dann huschte ein schüchternes Lächeln über ihr Gesicht. Schon okay", murmelte sie und schaute auf das beschädigte Eis. Eine Kinderseele so unversehrt und treu, dass sich die Erwachsenenwelt davor sträuben würde. Ein trauriger Blick trat in ihre Augen, der Emilia irgendwie bekannt vorkam. Wäre das mein Eis gewesen, hätte ich angefangen zu flennen und hätte mich womöglich fuchsteufelswild auf sie gestürzt, dachte Emilia. Wie heißt du?", fragte Emilia vorsichtig, während sie das Eis in den nächsten Mülleimer warf. Florence", antwortete das Mädchen leise. Florence..", wiederholte Emilia langsam, während sie in die vertrauten, waldgrünen Augen des Mädchens blickte. Du erinnerst mich an jemanden... an jemanden, der mir mal sehr nahe stand." Florence nickte, als ob sie etwas ahnte, und Emilia spürte den Drang, mehr zu erfahren. Das müsse ein schlechter Witz sein. Wo ist denn deine Mama?", fragte Emilia behutsam, drehte sich einmal um die eigene Achse, und sah keine Menschenseele, die nach ihrem Kind Ausschau hielt. Meine Mama...", Florence senkte den Blick, sie ist in eine andere Stadt gezogen. Sie arbeitet jetzt woanders." Ihr Herz zog sich abrupt zusammen. Sie ist weggezogen? Und du wohnst nicht bei ihr? Herrje, in deinem Alter kannst du doch nicht so alleine durch die Straßen schlendern." Florence schüttelte den Kopf. Nein, sie meinte, es wäre besser so. Ich wohne bei meiner Tante. Es ist eigentlich ganz gut so. Ich hab hier meine Freunde und die Schule." Und dein Papa?", fragte Emilia vorsichtig. Mein Papa kümmert sich nicht um uns", antwortete Florence leise. Als Mama gegangen ist, hat er gesagt, er könne die Verantwortung nicht alleine tragen. Er hat uns bei unserer Tante gelassen und ist auch weggegangen." Emilia fühlte einen Stich des Mitgefühls. Das muss schwer für dich sein." Florence zuckte mit den Schultern. Es ist okay. Ich habe noch meinen großen Bruder. Er hilft mir viel. Und wer braucht schon einen Papa, wenn man eine Tante hat?" Emilia nickte nachdenklich, konnte sich ein leichtes Schmunzeln aber nicht verkneifen. Diesbezüglich unterschieden sich beide Mädchen kaum voneinander, wahrscheinlich verstanden sie sich dadurch auch auf Anhieb. Weißt du was? Lass uns trotzdem etwas zusammen machen. Vielleicht ein neues Eis kaufen?" Florence strahlte. Ja, das wäre toll!" Und so machten sich Emilia und Florence auf den Weg, Seite an Seite durch die vertrauten Straßen. Die Frühlingssonne spiegelte sich in den Schaufenstern und warf ein warmes Licht auf die Pflastersteine. Emilia fühlte eine eigenartige Verbindung, als sie die kleine Hand von Florence festhielt. Es mag dir jetzt wohl sehr komisch vorkommen, das zu fragen, aber heißt deine Mama zufällig, ähm.. Lydia?", fragte Emilia vorsichtig. Florence verzog ihre Augenbrauen, nicht sicher, wie oder ob sie jegliche Antwort abliefern sollte. Emilia hatte selten falsche Vermutungen und Lydias Gesichtszüge würde sie selbst in einem Raum voller Menschen immer wieder erkennen. Florence könnte genauso gut der jüngere Vorgänger ihrer geliebten Lydia sein. Sie schien ein sehr offenherziges, aber auch schüchternes Mädchen zu sein. Mama hat immer gesagt, dass ich nicht mit Fremden reden sollte. Wäre Mama jetzt hier, würde ich mir großen Ärger einhandeln." Das ist eine kluge Regel", stimmte Emilia zu. Aber ich hoffe, ich kann bald keine Fremde mehr für dich sein." Florence lächelte unsicher, doch ihre Augen leuchteten. Vielleicht." Sie erreichten die kleine Eisdiele an der Ecke, deren bunte Markise im leichten Wind flatterte. Der verlockende Duft von frischen Waffeln und süßer Sahne empfing sie. Das Glockenspiel über der Tür klingelte hell, als sie eintraten. Hinter dem Tresen stand ein freundlicher älterer Herr, der sie mit einem breiten Lächeln begrüßte. Hallo, ihr beiden! Was darf's denn heute sein?", fragte er fröhlich. Florence drückte ihre Nase gegen die Glasvitrine und betrachtete die bunten Eissorten. Ich glaube, ich nehme Schokolade und Erdbeere... und vielleicht auch ein bisschen Vanille," entschied sie schließlich. Emilia griff in ihre Tasche und fand nur einige Münzen. Sie biss sich auf die Lippe und wandte sich an den Verkäufer. Könnten wir das vielleicht anschreiben lassen? Ich bringe das Geld morgen vorbei." Der Mann hinter dem Tresen nickte verständnisvoll. Natürlich, das ist kein Problem. Hier habt ihr euer Eis." Florence nahm ihre Waffel mit strahlenden Augen entgegen, während Emilia sich für eine Kugel Zitronensorbet entschied. Gemeinsam setzten sie sich an einen der kleinen Tische vor der Eisdiele. Die warme Sonne schien auf sie herab, während sie ihr Eis genossen. Warum hast du nach meiner Mama gefragt?", wollte Florence schließlich wissen, während sie vorsichtig an ihrer Eiskugel leckte. Emilia zögerte einen Moment. Ich kannte mal eine Lydia, die sehr wichtig für mich war. Du erinnerst mich ein bisschen an sie, das ist alles. Obwohl, wenn du noch denselben Familiennamen tragen würdest.." Florence nickte nachdenklich. Hm, Hoffmann? So heißen wir alle, außer Tante Jeanne. Mama ist wirklich toll. Sie arbeitet viel, aber sie hat immer Zeit für mich und meinen Bruder, wenn auch nur per Skype. Und Tante Jeanne ist ja sowieso da. Sie machen zusammen die besten Pancakes der Welt." Emilia lachte, aber gleichzeitig leuchtete ihr ein, dass sie sich niemals täuschen könne, geschweige denn dürfe, nach all dem, was sie und Lydia als ihr großes Geheimnis verbargen. Es war also wirklich ihre kleine, aber doch so aufgeschlossene Tochter. Das klingt wunderbar. Ich hoffe, ich darf mal einen probieren." Florence grinste. Bestimmt. Ich sag Mama einfach, dass du keine Fremde mehr bist." In diesem Moment wusste Emilia, dass diese Begegnung kein Zufall war. Das muss sie dann ganz alleine entscheiden, nicht wahr?", antwortete Emilia sanft und blickte Florence in die Augen. Florence nickte, den Kopf leicht schief gelegt. Ja, aber ich bin mir sicher, dass sie dich mögen wird. Mama mag eigentlich alle, die nett sind." Das hoffe ich doch", sagte Emilia und lächelte. Natürlich musste sie so tun, als wäre zwischen ihr und ihrer Mutter nie etwas vorgefallen, abgesehen davon, dass Emilia krank vor Eifersucht wurde, wenn Lydia über ihre beiden Kinder sprach. "Also, erzähl mir mehr von dir. Was machst du gerne in deiner Freizeit?" Florence dachte einen Moment nach, während sie an ihrer Eiswaffel knabberte. "Ich liebe es zu malen. Mama sagt, dass ich eine richtige Künstlerin bin. Und ich spiele gerne mit meinem Bruder im Park. Manchmal gehe ich auch mit Tante Jeanne auf Abenteuertouren." Emilia lächelte. "Das klingt wunderbar. Was malst du am liebsten?" "Tiere und Landschaften", antwortete Florence stolz. "Vor allem Pferde. Ich liebe Pferde!!" "Ich auch, obwohl ich seit Ewigkeiten nicht mehr auf einem Pferd saß", sagte Emilia. "Vielleicht können wir zusammen mal einen Ausflug zu einem Reiterhof machen. Kennst du einen hier in der Nähe?" Florence' Augen leuchteten auf. "Ja, es gibt einen ganz tollen Hof nicht weit von hier. Das wäre super!" In diesem Moment trat der Eisdielenbesitzer an ihren Tisch. "Na, ihr beiden, schmeckt's euch?" "Ja, sehr!", antwortete Florence begeistert und strahlte den Mann an. "Freut mich zu hören", sagte er und wandte sich an Emilia. "Ihr könnt gerne jederzeit wiederkommen. Das Anschreiben ist kein Problem." Wäre ihr aber auch kein Schleier gewesen, falls nicht. "Vielen Dank," sagte Emilia dankbar, "das ist sehr nett von Ihnen." Der Mann nickte und ging zurück hinter den Tresen. Emilia wandte sich wieder an Florence. "Also, was hältst du davon, wenn wir diesen Samstag zum Reiterhof fahren? Ich würde mich freuen, dich besser kennenzulernen." Florence strahlte. "Das wäre toll! Ich muss nur Mama und Tante Jeanne fragen, aber ich bin sicher, dass sie es erlaubt." Dann lass uns das gleich klären, wenn wir dich nach Hause bringen," schlug Emilia vor. Als Emilia sich vor Augen führte, dass Florence bald mit der Frau sprechen würde, die sie einst leidenschaftlich begehrt hatte, drehte sich ihr Magen um. Sie stand auf und reichte Florence die Hand. "Komm, wir gehen. Es wird langsam spät." Florence nahm ihre Hand und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Die Straßen waren jetzt in das goldene Licht der untergehenden Sonne getaucht, und Emilia spürte seit langer Zeit ein wenig Freude in sich aufkeimen. Doch diese Freude war nur flüchtig. Vor dem Haus von Florences Tante, als die Tür aufging und eine Frau heraustrat, verschwand die Freude und machte einem Schock Platz. Wäre sie Teil von "Verstehen Sie Spaß?", wäre es jetzt höchste Zeit gewesen, diesen Streich aufzudecken. Ihr Gesicht erhellte sich, als sie Florence und Emilia sah. "Da bist du ja, Florence! Du hast es aber ganz schön lange in der Stadt ausgehalten. Und wer ist deine neue Freundin?", Florence lächelte stolz. "Das ist Emilia. Sie hat mich heute zum Eis eingeladen. Dürfen wir am Samstag zusammen zum Reiterhof gehen?" Jeanne musterte Emilia einen Moment lang prüfend, dann lächelte sie herzlich. "Natürlich, wenn das für Emilia in Ordnung ist." In diesem Moment hätte sie am liebsten im Boden versinken wollen und nie wieder aufgetaucht. "Das ist es," bestätigte Emilia, obwohl ihr Herz schneller schlug und ihre Gedanken wirbelten. Ihr Herz blieb stehen und sie konnte ihren Augen nicht trauen. Diese Frau vor ihr war fast eine identische Kopie ihrer geliebten Lydia. Ihre Beine fühlten sich wie Gummi an, und sie musste sich zwingen, nicht umzukippen. Bis auf die kupferfarbenen Haare, die ihr bis zur Schulter reichten, und ihren sehr ausgefallenen Kleidungsstil, der aus jeglichen Jahrzehnten zu stammen schien und ihren noch markanteren Lachfältchen, war Jeanne eine lebende Erinnerung. Eine Naturgewalt, die sie ungern von der Bettkante stoßen würde. Emilias Verstand wollte ihr einen Streich spielen, oder schlimmer noch, sie begann wahnsinnig zu werden. Sie blinzelte mehrmals, als ob das Bild vor ihr verschwinden würde, aber Jeanne blieb real. Das Herzklopfen verstärkte sich, als sie realisierte, dass sie die Augen und das Lächeln sah, die sie so gut kannte. "Es freut mich, Sie kennenzulernen, Frau..?", stammelte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. "Lassen wir die Förmlichkeiten direkt unter den Tisch kehren, einfach nur Jeanne", stellte sich die noch unbekannte, aber unheimlich schöne Frau vor und reichte ihr die Hand. "Aber du kannst mich gerne Jeanny nennen." Merkt sie meine schwitzige Hand? Emilia nahm die Hand, die Berührung fühlte sich real und warm an, doch ihr Inneres war ein einziges Chaos aus Erinnerungen und gegenwärtigen Gefühlen. Ein Sturm aus Verlust, Sehnsucht und unerwarteter Hoffnung braute sich in ihr zusammen. "Es freut mich sehr, Jeanne, ich meine Jeanny", brachte sie mühsam hervor. Florence blickte zwischen den beiden Frauen hin und her, spürte die Spannung, konnte sie aber nicht einordnen. Gemeinsam traten sie in das Haus ein, das von dem warmen, goldenen Licht der untergehenden Sonne durchflutet wurde. Für Emilia fühlte es sich an, als ob die Zeit sich biege und Vergangenheit und Gegenwart auf schmerzhafte Weise miteinander kollidierten. Der vertraute Duft von frischem Gebäck mischte sich mit dem Parfüm, das sie so gut kannte. Es war, als ob Lydia durch Jeanne wieder lebendig geworden wäre, und diese Vorstellung war zugleich tröstlich und verstörend. Das Haus, das Emilia betrat, war ein gemütliches Refugium, das von warmen Farben und persönlichen Details geprägt war. In der Eingangshalle begrüßte ein antiker Schrank die Besucher, während eine weiche Teppichmatte unter ihren Füßen lag. Ein sanfter Duft von Lavendel und frischen Blumen erfüllte die Luft. Durch das offene Wohnzimmer sah sie gemütliche Möbel, die zum Verweilen einluden. Ein großes Sofa, umgeben von mit Kissen bedeckten Sesseln, war das Zentrum des Raumes, während ein prasselndes Feuer im Kamin eine behagliche Atmosphäre schuf. An den Wänden hingen Bilder von idyllischen Landschaften und Familienporträts, darunter auch ein Foto, welches Lydia und ihre beiden Kinder in den Alpen aufzeigte. Sie schien ein glückliches Leben geführt zu haben, wie hätte Emilia darin noch Platz finden können? Der Anblick verlieh Emilia einen Stich, doch sie zwang sich, den Gedanken beiseitezuschieben und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, auf Jeanny und die allzu verhexte Begegnung mit ihrer Tochter Florence. Während Florence begeistert von ihrem Tag erzählte, konnte Emilia sich kaum auf die Worte konzentrieren. Ihr Blick war wie gebannt auf Jeanne gerichtet, ihre Gedanken rasten. Konnte es wirklich sein, dass das Universum ihr eine zweite Chance gab? Oder war sie dabei, den Verstand zu verlieren? Florence wurde immer müder, ihre Augenlider wurden schwer und sie lehnte sich erschöpft gegen Emilia. Jeanne lachte leise. "Ich glaube, es ist Zeit für jemanden ins Bett zu gehen, sagte sie sanft." "Aber ich bin noch gar nicht müde", murmelte Florence schläfrig, während sie gähnte und ihre Wangen langsam eine rötliche Färbung annahmen. Natürlich nicht, scherzte Jeanne. "Komm, meine Kleine, ich bringe dich ins Bett." Sie nahm Florence an die Hand und führte sie die Treppe hinauf. Emilia folgte ihnen, unfähig, ihren Blick von Jeanne abzuwenden. Es war, als würde sie in eine andere Zeit versetzt, in der Lydia noch wandelte. Oben angekommen, half Jeanne Florence in ihren Schlafanzug, deckte sie liebevoll zu und gab ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn. "Schlaf gut, meine Liebe", flüsterte sie, und Florence lächelte müde. "Gute Nacht, Jeanne. Gute Nacht, Emilia", murmelte Florence, bevor sie die Augen voller Zufriedenheit schloss. Florence' Zimmer war etwas, was sich Emilia als Kind nur erträumen konnte. Die Wände waren in einem sanften Pastellrosa gestrichen, das von einer warmen Deckenlampe mit einem sanften Glanz beleuchtet wurde. Auf dem Bett lag ein flauschiger Teddybär, den Florence fest im Arm hielt, während sie sich unter die Decke kuschelte. Ein Regal neben dem Bett war mit Büchern gefüllt, von denen einige auf dem Boden verstreut lagen, als Beweis dafür, dass Florence gerne vor dem Einschlafen las. Ein großes Fenster mit weißen Gardinen ließ den Mondlichtschein herein und tauchte das Zimmer in ein beruhigendes Silberlicht. Florence schloss ihre müden Augen mit einem glücklichen Lächeln und driftete langsam in den Schlaf Emilia und Jeanne gingen leise wieder hinunter, wobei man unmöglich gegen eine alte, gleichzeitig knarzende Holztreppe ankommen könne, ohne erwischt oder bemerkt zu werden. Eindringline hätten hier keine Chance. In der Küche angekommen, nahm Jeanne eine Flasche Rotwein aus dem Schrank und goss sich ein Glas ein. "Möchtest du auch ein Glas?", fragte sie und Emilia nickte dankbar. Sie konnte das Bedürfnis nach einem Getränk, um ihre Nerven zu beruhigen, nicht leugnen. Sie konnte auch nicht leugnen, dass Jeannes bordeauxfarbener Poncho ihr nicht schmeichelte. Jeanne reichte ihr ein Glas Rotwein. Anders als Lydia, die immer Weißwein bevorzugt hatte. Ihr Gehirn wollte sie wohl veräppeln. Das Kribbeln in ihrem Bauch war wieder da, und bei jedem Augenkontakt mit Jeanny, die vielleicht fünf Jahre älter war als Lydia, wurde die Begierde stärker. Der Alkohol verstärkte dieses Gefühl nur noch, es war definitiv keine gute Idee gewesen. "Darauf, dass du und Florence unvergessliche Momente erleben werdet", sagte Jeanne und hob ihr Glas. "Dem kann ich nichts hinzufügen", erwiderte Emilia, und beide nahmen einen tiefen Schluck. Der Wein war schwer und vollmundig, und sie spürte, wie die Wärme sich in ihrem Körper ausbreitete. Es war ihr ganz recht, das Thema auf Lydia zu lenken. Jeanne erinnerte sich nur vage an ein Mädchen, das Lydia ständig erwähnte. Und doch hatte sie mich verlassen. Im Dämmerlicht der Küche, mit Jeanne nur einen Atemzug entfernt, war es schwer, ihre Gedanken zu kontrollieren. "Du erinnerst mich so sehr an sie", sagte Emilia schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. "An Lydia", Jeanne sah sie an, ihre Augen weich und verständnisvoll. "Ich weiß. Es muss schwer für dich sein", sie legte eine Hand auf Emilias Arm, eine sanfte, beruhigende Geste, die Emilias Herz dennoch rasen ließ. "Es ist, als würde mein Verstand mir einen Streich spielen", gestand Emilia. Aber gleichzeitig fühlt es sich so real an. Jeanne lächelte leicht, ein melancholisches Lächeln. "Die Vergangenheit hat eine Art, uns einzuholen, nicht wahr? Und außerdem liegst du ja gar nicht mal so falsch, denn wir teilen ja ein-und dasselbe Erbmaterial, auch, wenn sie nun in einer Stadt fernab von hier lebt." Sie wollte keine weiteren Salze in ihre eigenen Wunden streuen. Es war vorbei, und vielleicht war es sogar besser, dass Lydia damals nie geantwortet hatte. Emilia nickte, unfähig, ihre Augen von Jeanne abzuwenden. "Ja, das tut sie." Mit jedem Glas Rotwein und jedem weiteren Blick, den sie austauschten, schien die Grenze zwischen Erinnerung und Realität zu verschwimmen. Die Ähnlichkeit zu Lydia, der vertraute Duft, die Art, wie sie sprach und sich bewegte – alles zog Emilia in einen Strudel der Begierde und Verwirrung. "Weißt du", begann Jeanne leise, "es ist in Ordnung, sich verloren zu fühlen. Manchmal hilft es, einfach loszulassen und den Moment zu akzeptieren, so wie er ist." Emilia spürte, wie ihre Fassade bröckelte, wie die Tränen der Vergangenheit in ihre Augen stiegen. "Ich weiß nicht, ob ich das kann", flüsterte sie. "Ich habe so lange versucht, stark zu sein und das bestmögliche aus der Situation zu schöpfen..." Jeanne trat näher, ihre Hand glitt sanft über Emilias Wange. "Du musst nicht immer stark sein. Manchmal ist es auch in Ordnung, einfach nur zu fühlen." Jeanne lächelte verständnisvoll und füllte zwei Gläser mit Wasser. Sie reichte eines an Emilia. "Hier, trink. Es wird dir guttun." Emilia nahm das Glas und trank langsam, spürte, wie die Kühle des Wassers ihren Kopf ein wenig klärte. "Danke", sagte sie leise. "Es ist... alles etwas viel." Jeanne setzte sich neben sie an den Küchentisch, ihre Augen suchten Emilias. "Möchtest du lieber nach Hause gefahren werden? Ich könnte dich bringen, wenn du möchtest." Emilia schüttelte den Kopf. "Nein, danke. Ich glaube, es ist besser, wenn ich hier bleibe, also, wenn ich darf." Nüchtern betrachtet, wäre es ihr bei bestem Willen nicht in den Sinn gekommen, so etwas als selbstverständlich anzusehen. "Außerdem... ich weiß nicht, ob ich das jetzt könnte." Wer weiß, was ich noch vom Stapel lassen würde. Jeanne nickte verstehend. "Deine Mama wird sich sicher keine Sorgen machen?" Wenn sie nur wüsste, welches Monster von Mutter sie Tag für Tag ertragen musste. Emilia seufzte. "Meine Mutter ist immer noch im Krankenhaus. Sie würde es sowieso nicht merken." "Oh, das tut mir leid", sagte Jeanne und drückte Emilias Hand, als wüsste sie genau, worauf sie hinaus wollte. "Dann bleib hier. Ich werde auf dich Acht geben." Ein warmes Lächeln huschte über Emilias Gesicht. Es kam ihr vor als wäre Lydia diejenige gewesen, die ihr diese Worte zusprach. "Danke", sagte sie erneut, ihre Stimme etwas fester. "Es ist seltsam, aber es fühlt sich an, als würden wir uns schon ewig kennen." Jeanne lächelte. "Manchmal trifft man Menschen, bei denen es sich genau so anfühlt. Vielleicht, weil sie eine Verbindung zu jemandem haben, den man geliebt hat." Emilia nickte langsam. "Ja, vielleicht ist das so." Sie stellte das Glas ab und sah Jeanne an. "Es ist fast gruselig, dass der Zufall wollte, dass wir uns kennenlernen", Jeanne legte eine Hand auf Emilias Arm. "Ich werde auf dich aufpassen. Hier bist du in Sicherheit. Ich möchte nicht, dass du alleine durch die Dunkelheit der Nacht geisterst. Weiß Gott, was passieren könnte." Sie drückte Emilias Hand, stand auf, lächelte sanft und begann, das Sofa herzurichten. Sie holte weitere Decken und Kissen und arrangierte sie sorgfältig. Bei der Hitze. "Hier, das sollte bequem sein", sagte sie, als sie die letzten Kissen aufschüttelte. Emilia setzte sich auf die Couch und ließ sich in die weichen Kissen sinken. Der Raum um sie herum fühlte sich warm und behaglich an, doch das Chaos in ihrem Inneren ließ sich nicht so leicht beruhigen. Sie beobachtete Jeanne, die mit einer sanften Entschlossenheit arbeitete, die so sehr an Lydia erinnerte, dass es fast schmerzte. "Lass uns versuchen, ein bisschen zu schlafen. Es war ein anstrengender Tag, für dich und für mich", schlug Jeanne vor. "Ich werde oben im Schlafzimmer sein, falls du etwas brauchst." Da wäre ich ja schön blöd, mich zu trauen und dort einzukehren. Emilia nickte und lächelte schwach. "Danke, Jeanne. Für alles." Es ist erstaunlich, dass eine Frau wie Jeanne in den paar Stunden mehr auf Emilia einging als ihre Mutter jahrelang. "Gute Nacht, Emilia", sagte Jeanne und beugte sich vor, um ihr sanft über den Arm zu streichen. "Schlaf gut." Als Jeanne das Zimmer verließ, machte sich Emilia auf der Couch so breit, als wäre sie in ihrem eigenen "Zuhause", und zog die Decken um sich. Der Duft von frisch gewaschenen Laken und die sanfte Wärme der Decken beruhigten sie ein wenig. Doch das Kribbeln in ihrem Bauch blieb, eine ständige Erinnerung an die Anziehungskraft, die sie für Jeanne empfand. Mit geschlossenen Augen ließ sie die letzten Stunden Revue passieren. Die Verbindung, die sie zu Jeanne spürte, war tief und unerklärlich. In ihren Träumen verschmolzen die Bilder von Lydia und Jeanne zu einer einzigen, tröstenden Präsenz. Die Nacht war still, und für einen Moment fühlte sich Emilia endlich nicht mehr so allein.

Dieses gottverdammte HerzWhere stories live. Discover now