Kapitel 20

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Dunkelheit. Schwarze Nacht. Eine Straßenlaterne. Viele kleine Häuser. Ein Weg.
Ich laufe eine Straße entlang. An der Seite stehen Autos geparkt. Alles ist leise, alles wirkt ausgestorben. Ich kenne diese Gegend. Hier bin ich aufgewachsen, hier wohne ich. In dem grünen Haus am Ende der Straße. Direkt neben dem Wald.
Ich passiere weitere Laternen. Ein Schatten gleitet neben mir her, fällt manchmal kurz zurück und holt dann rasch wieder auf. Mein Schatten. Aber er ist zu breit, zu groß. Ich kann meinen Kopf nicht drehen, um ihn genauer zu betrachten. Steif starre ich nach vorne. Stumm gehe ich weiter.
In der Ferne sehe ich ein Haus. Mein Haus. Ich fixiere es, gehe zielgerichtet darauf zu. Es brennt noch Licht. Es ist das einzige Haus, in dem jetzt noch Licht brennt. Ich höre Stimmen. Erst leise, dann werden sie lauter. Ich biege in den Vorgarten. Den Vorgarten meines Zuhauses.
"Aber was ist, wenn sie wirklich abgehauen ist?" Mein Vater. Es ist die Stimme meines Vaters. Es zieht mich zu dem Haus. Ich will ihn sehen, ich will bei ihm sein.
"Nein! Das würde sie doch nie tun! Du kennst sie doch." Meine Mutter. In meiner Brust beginnt mein Herz zu beben. Ich will zu ihr. Ich will sie trösten. Ihre Stimme klingt so traurig, so kaputt. Die sonstige Stärke und Sicherheit ist verschwunden.
"Schon gut. Es war wegen dem Zettel. Ich wollte nur..."
"Mama? Wo ist Ava?" Alles zieht sich in mir zusammen. Es ist meine Schwester. Meine kleine Schwester.
"Anna! Was machst du denn noch hier?"
Ich strecke meine Arme nach oben, klettere auf eine kleine Erhöhung vor dem Haus. Dann sehe ich sie. Meine Familie. Sie sitzen alle im Wohnzimmer zusammen auf dem Sofa. Meine Schwester krabbelt gerade auf den Schoß meiner Mutter. Mein Vater sitzt neben ihr. Mein Bruder hockt starr etwas entfernt da, fixiert still den Boden. Neben ihm liegt meine Hündin. Den Kopf auf den Pfoten und den Blick auf meine Familie gerichtet.
"Ich kann nicht schlafen. Ava fehlt mir." Anna drückt ihren Kopf gegen die Brust meiner Mutter. Die schaut zu meinem Vater.
"Uns auch. Aber sie kommt wieder... versprochen." Er versucht zu lächeln. In seinen Augen spiegelt sich jedoch nur Trauer. Kein Funken Freude.
"Wie kannst du dir da so sicher sein?!" Mein Bruder springt auf. Die Hündin hebt den Kopf, schaut ihn an. Sein Körper bebt. Zorn. "Du kennst die Geschichten. Sie ist nicht die Erste. Und all die Anderen sind auch nie wieder gekommen." Seine Stimme ist aufgebracht. Plötzlich schaut er zu Boden. "Ich hab sie nicht einmal verabschiedet... Wie konntet ihr Anna es versprechen?!"
„Adrian! Bitte!" Mein Vater wird laut. „Nicht jetzt!"
Das Gesicht meiner Schwester wird weiß. "Mama?! Ava kommt doch wieder?" Eine Träne rollt aus ihrem Auge, kullert ihre Wange herunter.
"Anna..." Meine Mutter stockt. Sie kämpft mit ihren Gefühlen. "Ich weiß es nicht." Die Antwort ist ehrlich. Vielleicht etwas zu ehrlich. Nicht nur für Anna. Für alle.
Es kehrt Stille ein. Meine Schwester beginnt die Worte zu verarbeiten. Sie starrt eine Zeit lang auf den Couchtisch, bricht dann in Tränen aus. Mein Vater sitzt nach vorne gebeugt da. Blickt auf den Boden. Meine Mutter versucht Anna zu trösten. Umarmt sie stumm. Mein Bruder geht langsam zum Fenster. Er kommt zu mir. Ich will meine Hände gegen die Scheibe pressen. Ich will ihm sagen, dass ich hier bin. Ich will ihn umarmen. Mich verabschieden.
Doch ich kann mich nicht bewegen. Kann ihn nur anstarren. Hoffen, dass er mich sieht. Er bleibt schließlich stehen. Blickt hinaus. Doch nicht zu mir. Durch mich hindurch. Als wäre ich ein Geist. Eingeschlossen von der dunklen Hülle der Nacht. Seine Augen zeichnen Wut und Kummer. Er wirkt nicht mehr wie mein großer, starker Bruder. Eher zerbrechlich und klein.
Ich starre in das Zimmer. Es wirkt wie eingefroren. Alle schweigen. Alle hängen in ihren Gedanken.
Ich will zu ihnen. Mich neben sie setzen. Sie alle trösten. Doch ich stehe hier. Draußen, auf der anderen Seite des Fensters. Wie eine Mauer trennt es mich. Trennt mich von meiner Familie.
Plötzlich durchschneidet ein Schrei die Stille. Verzweifelt, verängstigt. Dann ein metallenes Schleifen. Es sitzt mir wie ein kalter Schauer im Leib. Ich will mich umsehen. Mein Blick bleibt starr auf meine Familie gerichtet. Ich kann mich nicht bewegen.
Auf einmal verschwimmt alles. Formen verlaufen. Farben gehen ineinander über. Die Stille wird unerträglich. Meine Familie verschwindet vor meinen Augen. Es wird immer dunkler. Ich will nicht gehen. Ich will meine Familie nicht verlassen.
Schließlich ertönt ein Schuss. Der Knall, ohrenbetäubend laut. Als wäre er neben mir. Dann ist alles schwarz.

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⏰ Last updated: Jun 11 ⏰

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