Eins

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Seit ich denken kann bin ich anders. Vielleicht wunderte es deswegen niemanden. Es war nur eine frage der Zeit, dachten sie. Irgendwann musste es ja so weit kommen, meinten sie. Man kann hier niemandem eine Schuld zuweisen, sagten sie.

Seit ich denken kann bin ich etwas verdreht. Immer schon tat ich Dinge, die niemand von mir erwartete. Ich sagte das, was ich nicht sollte und von dem was ich dachte wollen wir erst gar nicht anfangen.

Seit ich denken kann bin ich komisch. Nie machte ich die Dinge, die andere Kinder in meinem Alter machten. Und nie hatte ich Interesse an den Sachen , die mich eigentlich interessieren sollten.

Mit fünf sprang ich aus dem Fenster- und überlebte. „Das war ein schrecklicher Unfall!", meinten meine Eltern und die Nachbarn und der Rest der Familie.

Es war kein Unfall. Ich sprang bewusst. Und jeder wusste, dass ich anders, verdreht und komisch war, doch einer Fünfjährigen traute man nicht zu, aus eigener Hand aus dem Fenster zu springen, eine Fünfjährige kam nicht auf solche Gedanken.

Ich hatte schon immer das Gefühl, ich würde nicht in diesen Körper passen oder dieses Leben oder diese Welt. Immer schon fühlte ich mich fremd. Meine Eltern waren fremd, meine Freunde waren fremd, sogar mein Hamster war mir fremd. Unbekannte Gesichter, denen ich jeden Tag über den Weg lief. Fremd, fremd, fremde Körper.

In der Schule zeichnete ich. Oder schlief. Das machte ich solange, bis niemand mehr versuchte mir etwas beizubringen, solange, bis meine Eltern auch aufgaben. Sie nahmen mich mit dreizehn aus der Schule. Verwirrte, kopfschüttelnde oder sogar angewiderte Gesichter, als ich aus der Klasse ging. Wortlos, leise, gleichgültig.

Bis heute weiß ich nicht, warum sie mit mir befreundet sein wollte. Sie war meine einzige Freundin, wenn man das, was wir hatten überhaupt eine Freundschaft nennen kann.

Einmal saßen wir draußen in meinem Garten im Gras und ich zählte die Blütenblätter der Gänseblümchen um mich.

„Sag mal, was ist eigentlich los mit dir?", fragte sie mich. Nicht wütend, nicht verachtend einfach nur interessiert. „Was soll los sein?", antwortete ich schulterzuckend. „Na was los mit dir ist." „Vieles und gar nichts.", sagte ich schlicht. „Du bist sehr seltsam Emma.", lachte sie und schaute mich lange an, fast so, als versuchte sie eine Antwort in meinem Gesicht zu finden. Nichts was sie sagte, meinte sie böse. Sie war der einzige Mensch auf der Welt, der mir vielleicht gar nicht so fremd war, wie ich dachte. Sie war einfach da und ging nicht weg, egal was war. Das mochte ich an ihr. Und nichts konnte sie erschüttern, sie war unerschütterlich.

Sie versuchte mich zu verstehen, so verwirrend ich auch war. Und sie versuchte mit mir zu sprechen, so wenig ich auch sprach.

„Emma, was ist deine Lieblingsfarbe?", fragte sie mich einmal aus dem Nichts heraus.

„Braun und deine?" Sie fragte nicht nach einem „warum" und schaute mich nicht schief an sie lächelte einfach nur und sagte dann: „Weißt du was meine ist? Blau, blau wie das Meer und der Himmel, so unendlich und weit und tief, unfassbar, phantastisch, phänomenal, wunderschön, atemberaubend, faszinierend." Es sprudelte nur so aus ihr heraus und ihre Augen strahlten hell. Manchmal dachte ich, sie war vielleicht gar nicht so anders als ich. Schon anders, aber auch anders als alle anderen. Und manchmal dachte ich, dass ich gar nicht so allein war, auf dieser Welt, in diesem Leben.

EmmaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt