Es war der zwölfte Tag, an dem ich nichts aß.
Nicht, weil ich magersüchtig oder dergleichen war. Besonders viel aß ich nie, schlank war ich auch. Nein, ich beschloss, nichts zu essen, bis ich ihn wiedersah. Und ich hatte ihn seit zwölf Tagen nicht mehr gesehen.
Das mit dem Nichts-Essen, das war meine Art mit Dingen umzugehen, mit denen ich nicht umgehen konnte. Ich stand also in meinem Zimmer, splitternackt vor dem Spiegel und sah mir dabei zu, wie ich die kleine rote Tablette auf meine Zunge legte. Ich musterte meinen Körper. Ich selbst fand mich noch nie hübsch, doch wahrscheinlich war ich sogar das, was die Allgemeinheit "hübsch" findet. Lange, dunkelbraune Locken, die einen starken Kontrast zu meinen hellgrünen Augen bildeten, volle, rosa Lippen und schlank, erschreckend schlank. Und als ich so vorm Spiegel stand, fragte ich mich, ob ich ihm gefiel.
Draußen wurde es immer kälter. Mir wurde auch immer kälter, meine Gedanken wurden immer kälter. Da war nichts, das mich glücklich machte, nichts worauf ich mich freute. In mir war Leere, Leere die anhält, Leere, die nicht mehr weg geht.
Er gab mir Wärme, wenn auch nur für so kurze Zeit. Und jetzt, jetzt ist er nicht mehr da, er ist, ich weiß nicht wo und ich spüre nur Kälte.
Etwas in mir wollte mir einreden, dass ich einfach aufhören sollte, so zu sein, wie ich sonst so bin. Es sagte, ich solle einfach gehen, ihn besuchen, mit ihm reden, mich wärmen. Doch ich konnte nicht. Ich war festgekettet, festgekettet an meine endlos verwirrenden Gedanken, an meine alten Gewohnheiten, an mich selbst. Und damit war ich immer zufrieden gewesen, ich war, wie ich war und nichts und niemand konnte das ändern, nicht meine Eltern, nicht meine Lehrer. Doch dann kam er und drehte mich , solange bis mir schwindelig wurde und ich nicht mehr wusste, wo oben und wo unten ist. So kannte ich mich nicht, so fühlte ich mich nie zuvor. Er bewegte mich, er inspirierte mich, er brachte mich zum Lächeln.
Manchmal, wenn ich wiedermal zu Hause lag und meine lauten, verwirrenden Gedanken mich überwältigten, dann dachte ich an ihn. Wie er lächelte, wie er roch, wie er neben mir saß, wie er meine Hand nahm. Ich stellte mir vor, wie es wäre, ihn zu küssen und allein bei dem Gedanken daran zerplatze ich fast vorlauter Überwältigung. Doch gleich darauf verwarf ich diesen Gedanken wieder, es war unmöglich, unsinnig, verrückt, daran zu denken. Er war nicht da, ich interessierte ihn nicht, denn er kam nicht.
Ich wollte es mir niemals eingestehen, doch ich konnte mich nicht länger selbst belügen. Ich hatte mich verliebt, Hals über Kopf, mit meinem ganzen Sein, mit jeder Faser meines Körpers, mit all dem Verrücktem und Beängstigendem, das in meinem Kopf herum schwirrte. Ich liebte ihn, seit ich ihn das erste Mal lächeln sah. Und ich liebte das erste Mal in meinem Leben. Ich liebte jemanden, dessen Namen ich nicht einmal kannte. Doch endlich gestand ich es mir ein und etwas in mir bewegte sich, es hüpfte und ich wusste, dass es dieses Mal nicht an den Drogen lag. Ich war das erste Mal seit langem, nicht mehr so traurig und so allein wie sonst immer. Ich lächelte und schrieb es mit roter Farbe quer über meine Zimmerwand: ICH LIEBE IHN.
Und da stand ich, mitten in meinem Chaos, immer noch nackt und lächelnd und fast glücklich, als mir plötzlich schwarz vor den Augen wurde und meine Knie versagten. Ich prallte schnell und hart am Boden auf, bevor ich das Bewusstsein verlor.
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Emma
Teen FictionSo laut, so leise. So hart, so weich. So real, so surreal. So absurd, so logisch. So faszinierend, so abstoßend. So schwer, so leicht. So hässlich, so schön. So einfach, so kompliziert. So glücklich, so traurig. So normal, so anders. So Emma. Emma.