15. Kapitel

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"Das halte ich für eine gute Idee. Früher oder später hätte Burnett dich sowieso zu einem Arzt geschleppt", sagte Holiday.

Nach ihrem Gespräch mit Derek flüchtete Kylie sich sofort zu Holiday. Es war eine schwachsinnige Idee gewesen, Derek von ihren Träume zu erzählen. Das hätte sie sich sparen können, denn nun fasste sie noch jemand mit Samthandschuhen an. Es war nur gutgemeint,schon klar, aber sie litt nicht an einer unheilbaren Krankheit.
Als Antwort gähnte Kylie herzhaft und nippte anschließend an ihrem Kräutertee, den Holiday freundlicherweise zubereitet hatte.
Sie saßen nun schon eine gefüllte Ewigkeit beisammen. Kylie erzählte von ihrem letzten Traum und der Tatsache, das ihr Vater gerne wieder Zeit mit seiner Tochter verbringen möchte. Vielleicht war es nicht die beste Idee, dass Tom sie in einem solchen Zustand sah.

"Lass uns über etwas Anderes reden. Je mehr ich an Schlaf denke, desto schwerer fällt es mir, meine Lider offen zu halten."

Kurz schwieg die Campleiterin und musterte sie eindringlich. "Wie sieht's mit deinen Geistern aus? Hast du schon jemand Neues?"

Gute Frage. Auf die Schnelle fiel ihr spontan niemand ein. Ihr wurde bewusst, dass es höchst ungewöhnlich war, über eine so lange Zeitspanne keinen Geist zu haben. Normalerweise hatte sie ein paar Tage lang keinen Geist, aber noch nie war ihr über Wochen niemand erschienen. Doch plötzlich meldete sich etwas in ihrem Kopf. Letzte Nacht mit Lucas. Der Albtraum von Miranda. Die stechende Kälte.

"Letzte Nacht war ein Geist da. Aber die Kälte tat viel mehr weh. Ich hab mich gefühlt, als würde ich zum Eiszapfen mutieren."

Gedankenverloren ließ sie ihren Blick aus dem Fenster schweifen. Zahlreiche Schüler und Schülerinnen belagerten den Rasen. Die Stunde war wohl zu Ende.

"Sonst ist mir nichts Ungewöhliches aufgefallen. Aber es gibt keine Einmal-Geister, oder?"

"Nicht, dass ich wüsste. Wenn du sagst, dass die Anwesenheit des Geistes schmerzte ... Nein, erzähl mir lieber: Handeln die Träume ausschließlich von Leuten, die du zu deinem Bekanntenkreis zählst?"

Das Zögern in ihrem Blick und der Schatten, der sich über Holidays Gesicht legte, entging ihr nicht. Als ihr ein anderer Traum einfiel, vergaß sie das wieder.

"Nun ja ... Ein Traum handelte auch von mir auf einem Feld, dessen Ranken mich förmlich verschlangen. Da war auch ein Gesicht. Aber es lag im Schatten; man konnte nur die Silouetten erkennen."

Erstaunt riss Holiday die Augen auf und setzte an, etwas zu sagen, hielt jedoch inne. Verzweifelt sah Kylie sie an.

"Holiday, wenn du etwas weißt, bitte sag es mir. Ich will doch nur einmal wieder durchschlafen können", bettelte Kylie.

Sonst zögerte die Campleiterin nie. Irgendetwas musste sie verschreckt haben. Das sah man ihr an.
Holiday atmete tief ein und aus, bevor sie ihre Lippen wieder öffnete und anfing, zu reden.

"Ich dachte mir, dass du es vielleicht mit ...", begann Holiday, doch weiter kam sie nicht, denn sie wurde durch ein lautes Poltern unterbrochen.

Im nächsten Moment stand Burnett im Zimmer, mit verzogenem Gesicht und leicht geröteter Nase. Auf seinem weißen Hemd, dass bis zu den Ellbogen hochgekrempelt war, breitete sich ein großer Fleck aus, dass das Weiß durchsichtig erscheinen ließ.
Der Anblick war genial.

"Was ist denn mit dir passiert?", fragte Holiday besorgt, ganz im Gegensatz zu Kylie. Sie musste sich ordentlich zusammenreißen, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen.

"Jasmine Hasper, eine der neuen Schülerinnen, ist in mich hineingerannt und hat -", sagte er, bevor mit lautem Karacho dreimal hintereinander nieste, "ihre Kokosmilch oder was weiß ich, was dieses eklige Zeug war, auf mich geschüttet."

Noch zwei Nieser.
Während Kylie sich bemühte, ein ernstes Gesicht zu bewahren und gleichzeitig Gesundheit zu murmeln, sprang Holiday auf und holte ein frisches Reservehemd aus ihrem Regal für ihren Mann.

"Warum musste es ausgerechnet Kokosnuss sein?", fragte er, nachdem er sich für das Hemd mit einem Kuss bedankte.

Ein weiterer Fakt zierte nun Kylies Wissen. Sie zählte zwei und zwei zusammen und schlussfolgerte, dass Burnett auf Kokosnuss allergisch reagierte. Komischerweise belustigte es sie. Denn selbst der furchteinflößenste Vampir hatte seine Schwachstellen. Und in dem Fall handelte es sich um eine harmlose Kokosnuss.
Kylie drehte sich in ihrem Stuhl um, damit er sich unziehen konnte.

"Über was habt ihr zwei euch gerade unterhalten?", erkundigte sich Burnett.

"Über einen möglichen Geist. Was wolltest du vorher noch sagen, Holiday?", gab Kylie Antwort und Frage.

"Ach, ist nicht so wichtig gewesen. Ehrlich."

Jeder in diesem Raum wusste, dass sie log. Sogar Burnett, der nicht einmal wusste, worum es genau ging, sah seine Frau mit hochgezogenen Augenbrauen an. Eine spezielle Fähigkeit des Vampirseins war das Hören des Herzschlages, der sich bei Holiday durch die Lüge anscheinend erhöht hatte.

"Hey, wenn wir es noch rechtzeitig zum Arzt schaffen wollen, sollten wir langsam los. Übrigens kommt Kylie mit. Glaubst du, Dr. Whitman könnte sie dazwischen quetschen?", versuchte Holiday krampfhaft, das Thema zu wechseln.

"Ich werde mit ihm reden. Also kannst du immer noch nicht besser schlafen?", fragte er nun an Kylie gewandt.

"Nope. Schon seit Tagen nicht mehr richtig."

Kylie war etwas abgelenkt von dem Namen Whitman. Sie kannte diesen Namen. Dann riss sie die Augen auf und schaute Burnett skeptisch an.

"Meint ihr etwa den Tierarzt, zu dem du mich damals geschleppt hast?"

Nach dem ersten Angriff von Mario trug sie eine Prellung an der Schulter davon und hatte ein paar Kratzer am Hals abbekommen. Für Burnett hatte das damals ausgereicht, um sie auf schnellstem Wege einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Schon damals war sie misstrauisch gewesen, was den Tierarzt betraf.

Burnett seufzte und bemerkte dann: "Ich habe es dir früher schon gesagt und ich sage es dir nochmal. Er ist ein Tier-und Übernatürlichenarzt."

"Aber der ist doch viel zu weit weg. Können wir uns nicht einen Arzt in der Nähe suchen? Eine Schlafstörung ist ein gängiges Problem bei Menschen. Warum nicht auch bei Übernatürlichen?", versuchte es Kylie erneut.

Nach langem Hin und Her gewann Kylie und sie entschieden sich für die Praxis gleich neben dem Frauenarzt.

"Dann bringen wir zuerst Holiday zu ihrem Termin und ich versuche, dich beim Arzt so schnell wie möglich dran kommen zu lassen."

Plötzlich überkam sie eine gewisse Ruhe.
Sie bekam endlich Hilfe.
Und dieses Wissen drängte ihre Sorgen mit dem Eindringling und die ewige Müdigkeit für einen Moment in den Hintergrund.

Vereint im Sonnenlicht - Shadow Falls CampWhere stories live. Discover now