Kapitel 5

554 30 1
                                    

Nicht nur, dass ich mich seit meiner merkwürdigen Auseinandersetzung mit Luan jeden Tag mit meiner Mutter rumschlagen durfte, auch das Mittagessen wurde zu einem sehr unangenehmen Erlebnis. Denn ‚Legit' saß nach wie vor um mich und Inna herum. Inna hatte dabei viel Spaß. Sie flirtete zunehmend mit Chen, glaubte aber, dass ich dies nicht bemerkte. Und so sagte ich auch keinen Ton, wenn sie nach der Schule im Auto unaufhörlich von ihm Sprach.

Luan saß wie gewöhnlich neben mir. Doch er hatte sich so weit es nur ging von mir abgewandt. Er schaute mich nicht an, sprach kein einziges Wort mit mir. Ich wusste nicht, ob die anderen dies einfach nicht bemerken wollten, oder ob es ihnen schlichtweg egal war.

Ich fühlte mich seltsam leer. Morgens schaute ich verstohlen zu Tay hinüber. Ich betrachtete seinen Rücken, wie sich seine Schulterblätter unter seinem Hemd abzeichneten, wie sich seine Haare im Nacken leicht kringelten und wie sich sein Brustkorb hob und senkte und er ruhig atmete. Vor einer Weile noch war ich der Meinung gewesen niemanden zu brauchen. Selbst Inna, meine einzige Freundin, hatte ich wenig beachtet. Ich kam allein einfach besser zurecht. Aber die letzten Tage schien sich das Blatt gewendet zu haben. Ich war sogar im Grunde ganz froh, dass sich Chen, Kien, Kris und Luan zu uns setzten. Auch wenn die Stimmung zwischen mir und Luan nach wie vor angespannt war, gaben sie mir ein Gefühl der Ruhe und der Zugehörigkeit. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das einmal brauchen würde. Das bunte Stimmengewirr um mich herum, schien mich zu beruhigen. Und auch, dass die Jungs mich größtenteils aus ihrem Gespräch raus hielten und mich einfach einen stillen Teil der Gruppe sein ließen, sagte mir sehr zu. Es war ein Gefühl der Beständigkeit, diese Routine jeden Tag. Aber nicht die Routine der Reha, sondern meine eigene. Und ich war frei alles daran zu ändern. Ich fühlte mich wieder wie ich und als hätte ich wirklich die Zügel meines Lebens in der Hand. Nun lag es nur noch an mir, wann ich von Schritt in den Galopp los preschen würde.

Am Wochenende lag ich gelangweilt auf meinem Bett und starrte an die Decke. Es war schon Nachmittag und ich hatte noch immer meinen Schlafanzug an. Das waren immer die schlimmsten Tage - die Tage an denen man realisierte, dass die Freunde um einen herum gar nicht wirklich Freunde waren und dass die Zugehörigkeit sich auf die halbe Stunde Pause beschränkte.

Ich schaltete irgendwann meinen Laptop ein und scrollte durch unsere Schulwebsite. Da stieß ich auf einen Artikel über die Enderson.

„Neue Talente gesucht"

hieß die Überschrift. In dem Artikel ging es um die neue Förderung der Enderson und die Eröffnung eines neuen Studienfachs zur Ablösung eines anderen. Ich las Wort für Wort den Artikel. Plötzlich schien der Weg, den ich gesucht hatte direkt vor mir aufzutauchen. Und mein Pferd stand gesattelt davor und wartete ungeduldig auf den Ritt.

Wieso ich nicht früher auf diese Idee gekommen war, wusste ich auch nicht. Wahrscheinlich, weil ich den Weg nicht sehen konnte. So wie ich nicht wahrhaben wollte, dass Tay sich nicht für mich interessierte und so wie ich nicht sehen wollte, dass das zwischen mir und Luan wohl mehr als nur Freundschaft war, oder gewesen war.

Ich warf mich kopfschüttelnd auf mein Bett. Wie konnte ich nur so dermaßen dumm gewesen sein?! Es konnte doch nicht sein, dass mich ein kleiner Artikel so viel erkennen ließ, was ich vorher nicht sehen konnte.

Ich sog tief die Luft in meine Lungen und hielt sie, bis mir leicht schwindelig wurde. Ich musste nicht mehr so Klavier spielen können wie vorher. Ich musste niemandem irgendetwas beweisen. Das Klavier und ich wir waren schon immer eins gewesen. Von der ersten Sekunde an, von der ersten Berührung. Wie hatte ich das nur vergessen können. Plötzlich wuchs in mir der Drang zu spielen. Meine Finger wurden ganz kribbelig und am liebsten wäre ich sofort nach unten gestürmt, doch das konnte ich nicht. Ich hatte zwar endlich eine leuchtete Glühbirne über meinem Kopf, aber vor meiner Mutter spielen ... so weit war ich noch nicht. Schritt für Schritt und in meinem Tempo. So würde es laufen.

Piano Girl - Im Herzen spielt die MusikWo Geschichten leben. Entdecke jetzt