Kapitel 6 (FINAL)

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Eigentlich war es meine Absicht gewesen mit meinen Worten die Situation zwischen Luan und mir wieder ins Lot zu bringen. Doch stattdessen war ich jedes Mal nervös, wenn ich zum Mittagessen ging. Er war wieder etwas freundlicher zu mir, hielt aber sorgsam Abstand und ich bemerkte auch, wie er jede Interaktion zwischen mir und Tay beobachtete. Ich gab mir wirklich größte Mühe nicht auf Tay's Sticheleien einzugehen. Denn nach wie vor versuchte er mich aus der Reserve zu locken, doch das würde ihm nicht gelingen.
An einem Donnerstagmorgen saß ich mit tiefen Augenringen vor dem Klavier in der Schule. Ich starrte überglücklich auf das Blatt vor mir. Ich war fertig. Ich war endlich fertig. Ich hatte es geschafft. Dieses Lied bedeutete mir alles. Und bald wäre ich auch soweit es mit der ganzen Welt zu teilen. Es war nicht mehr allzu viel Zeit bis zu den Bewerbungen an der Enderson. Dieses Lied war meine Chance und meine Rettung. Auch wenn ich es nicht schaffen sollte, hatte ich etwas geleistet, was ich mir nie im Leben zugetraut hätte. Und das alles verdankte ich nicht etwa Tay, der die Vorlage zu einem Lied geschaffen hatte, was mich auf seltsame Weise inspirierte und bewegte, sondern Luan, der mir neue Möglichkeiten eröffnet hatte und durch den ich tatsächlich wieder angefangen hatte zu spielen. Ohne Druck und ohne Zwang.
Ich schrieb das Lied ein zweites Mal ab. Ich fühlte mich dazu verpflichtet Tay das Lied zu zeigen. Doch ich lehnte es strikt ab, auf ihn zuzugehen, ihm davon zu erzählen und ihn anschließend in den Proberaum zu schleifen, um ihm das Lied vorzuspielen. Es wäre ein zu intimer Moment, in dem ich mich mehr als unwohl gefühlt hätte. Luan das Lied von Kai vorzuspielen hatte auch schon eine einzigartige Atmosphäre geschaffen, die ich absichtlich und nur für ihn erzeugt hatte. Ich hätte vorher wissen müssen, dass die aufkommenden Gefühle Überhand gewinnen würden, was schließlich unsere Freundschaft zerstört hatte. Tay wollte ich einen solchen Moment nicht schenken. Das war er eindeutig nicht wert. Er hatte meine Aufmerksamkeit überhaupt nicht verdient. Mit nichts, von dem was er getan hatte, hatte er einen wertvollen Beitrag geleistet. So empfand ich auch, dass es eigentlich sein Lied war, das ich zu Ende geschrieben hatte, als einen Zufall. Das Lied hätte von jedem sein können. Hätte es nur die gleiche Aussage getragen und mich mit den sanften aber drängenden Klängen in seinen Bann gezogen.
Ich strich die Notenblätter sorgfältig glatt und schob sie in einen Umschlag. Ich war mir nicht sicher, ob ich Tay den Umschlag einfach wortlos in die Hand drücken sollte, oder ihn vielleicht einfach in seinen Spind schieben würde.

     Ich hatte mich für Letzteres entschieden und hielt es schon ungefähr fünf Minuten danach für eine blöde Idee. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Ich wartete nach der Schule auf Inna. Denn obwohl Luan und ich wieder miteinander sprachen, war nicht wieder alles beim Alten. Und so wurde ich immer noch von Inna nachhause gefahren oder fuhr mit dem Fahrrad zurück.
Plötzlich sah ich eine große Gestalt auf mich zuwanken. Ich kniff die Augen zusammen, wollte unsichtbar sein, aber natürlich gelang es mir nicht.
„Kia!", sagte er und schaute mich eindringlich an.
Ich erwiderte nichts.
„Kann ich kurz mit dir reden?", wollte Tay wissen. Er hielt meinen Umschlag in der Hand.
„Rede.", meinte ich knapp.
Er schaute sich zu allen Seiten um, griff nach meinem Handgelenk und zog mich schließlich die Treppe hinunter und schleifte mich um das Schulgebäude herum. Hier waren wir allein. Zumindest so allein, dass uns niemand hören würde.
„Ist das für die Enderson?", fragte er.
Ich zuckte zusammen. „Woher weißt du davon?", fragte ich und überlegte fieberhaft, wer mich verraten hatte. Doch ich hatte absolut niemandem davon erzählt. Da fiel mir der Ausdruck in meinem Zimmer ein. Luan war bei mir gewesen, vielleicht hatte er das Blatt gesehen. Aber er würde es nicht Tay erzählen. Oder doch?! Nein, bestimmt nicht. Aber vielleicht einem der anderen Jungs...
„Ich kenne dich einfach.", grinste er.
Stille entstand. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und auch Tay schien sich nicht gut genug überlegt zu haben, was er eigentlich genau von mir wollte.
„Also eigentlich wollte ich mit dir sprechen, weil am Wochenende ein Infokurs zu dem Studiengang ist, aber das wusstest du bestimmt schon.", sagte er.
„Ja, und?!", meinte ich und tat so, als wäre ich bestens informiert.
„Ich dachte wir könnten vielleicht zusammen hinfahren?!", fuhr er fort.
Verdutzt blickte ich ihn an.
„Außer du fährst schon mit jemand anderem.", fügte er hinzu.
Tatsächlich wollte ich unglaublich gern zu dem Infokurs. Inna würde sicherlich das ganze Wochenende mit Chen verplant sein und meine Mutter sollte noch gar nichts von meinem Vorhaben wissen. Eigentlich sollte niemand davon wissen.
„Hast du es irgendjemandem erzählt?", fragte ich Tay ernst.
Er schüttelte den Kopf.
„Dann lass uns fahren.", bestätigte ich und nickte. Ich hatte kaum eine andere Wahl. Ich hasste das unterschwellige Grinsen, das sich auf Tay's Lippen geschlichen hatte.
„Ich hol dich dann Samstagfrüh ab.", meinte er.

Piano Girl - Im Herzen spielt die MusikWo Geschichten leben. Entdecke jetzt