Kapitel 10

147 18 5
                                    

Keuchend presse ich mir die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien. Zwei Jahre lang habe ich mir keinen einzigen Gedanken an David mehr erlaubt. Ich wollte vergessen, nichts weiter. Und jetzt erfüllt das ganze Grauen meinen Kopf, sodass nichts anderes meinen Kopf erfüllt.

David, den ich so geliebt habe, der mich nie im Stich gelassen hat, ist tot.

Meine Gedanken beißen sich daran fest. Ein Würgereiz erschüttert mich und ich krümme mich zusammen. Noch vor ein paar Tagen ist alles in Ordnung gewesen, mehr als das. In meinem Kopf hat eine erfrischende Leere geherrscht, ohne Pauls Warnung und die schlimmen Erinnerungen an damals. Als ich mich für die National School of Ballet beworben habe, ist der einzige Hintergedanke gewesen, dass ich so ein neues Leben beginnen könnte. Ich würde nichts lieber tun, als alles hinter mir zu lassen.

Das Gegenteil ist nun der Fall. Alles, was ich monatelang im hintersten Eckchen meines Gehirns versteckt habe, übermannt mich auf einmal.

Meine Wangen glühen und ich schließe verzweifelt die Augen. Wieso muss alles immer so kompliziert sein? Werde ich jemals einem anderen Menschen so vertrauen können, wie ich es bei David getan habe? Vermutlich nicht. Die Angst, jemanden zu verlieren, sitzt mir in der Brust. Nochmal würde ich es garantiert nicht ertragen. Gepeinigt balle ich die Hände zu Fäusten.

Auch die Erinnerungen an Stacey schmerzen. Als vor zwei Jahren keine Leiche gefunden worden ist, habe ich den Glauben ans Leben verloren. Niemand, nicht einmal sie, ist zu mir vorgedrungen, weil ich mich vor ihnen verschlossen habe. Als ich nach wenigen Tagen die Ballettschule habe verlassen müssen, ist es mir recht gewesen. ‚Denk nie wieder daran. Lass nichts zu, was dich noch mehr zerstören kann', habe ich mir geschworen.

Doch im Grunde genommen ist mein Vorhaben zum Scheitern verurteilt gewesen. Sogar darin habe ich versagt.

Mehr als ein Jahr hat es gedauert, bis ich wieder angefangen habe, Leuten zu vertrauen. Anfangs ist es mir schwergefallen, normal zu leben, doch mit der Zeit hat es funktioniert.

Tränen rinnen mir unaufhaltsam über die heißen Wangen. Bei jedem Atemzug fühlt es sich so an, als würde mir jemand ein Schwert ins Herz rammen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und ich bekomme kaum noch Luft.

Eine weitere Erinnerung sucht mich heim. „Es tut ihr nicht gut, vor allem, da sie immer noch an Da-", hat Mum am Abend vor meiner Abreise geflüstert. David. Sie hat seinen Namen aussprechen wollen, ganz bestimmt. Wie Mütter es immer tun, hat sie sich bemüht, mich zu schützen. Sie hat nicht gewollt, dass ich auf eine neue Ballettschule gehe, in der Angst, mich an die Trauer zu verlieren. Deshalb ist sie so entsetzt gewesen, als ich das Stipendium für mich gewonnen habe.

Ich versuche ein Schluchzen zu unterdrücken, das sich von ganz tief unten anbahnt. Vergebens.

Der Schock ist zu groß, um ihn zu ignorieren. Obwohl es nur Erinnerungen sind, fühlt es sich anders an. Es kommt mir vor, als hätte ich diesen Schicksalstag eben noch einmal von neuem durchlebt.

Aufgewühlt wische ich mir über das Gesicht. Wenn sich die Vergangenheit bloß auch so leicht fortfegen ließe... Langsam beruhigt sich mein Herzschlag wieder, doch innerlich bin ich wie gelähmt.

Kleine Stromschläge jagen durch meinen Körper und es prickelt gefährlich unter meiner Haut. Plötzlich ist mein Leben aus den Fugen geraten, wenngleich ich es vorher so zwanghaft unter Kontrolle gehalten habe. Nichts ist mehr so wie vor ein paar Stunden. Ich habe zugelassen, dass mich die Erinnerungen verletzlich machen.

Pass auf dich auf... Kalter Angstschweiß bricht auf mir aus. Pauls Warnung ist ebenso furchteinflößend. Wie soll ich sie verstehen? Was ist an der NSoB nicht so, wie es sein soll? Es gibt nur eine Person, die mir diese Fragen beantworten kann - Paul. Und genau er scheint mir die ganze Woche über schon auszuweichen.

Immer wieder durchzucken mich beängstigende Bilder aus meiner Vergangenheit. Inzwischen sind meine Tränen versiegt, doch dafür brennt ein zerstörerisches Feuer in meiner Seele. Wenn ich die Augen schließe und mich mit aller Kraft konzentriere, gelingt es mir, David auszublenden. Aber diese Traumwelt existiert nur für ein paar Sekunden.

Irgendwann ist all die Trauer aus meinem Körper geflossen. In mir herrscht ein dunkles, gähnendes Loch.

Wie eine Marionette schiebe ich die Bettdecke von meinen Beinen und gähne. Sofort fühle ich mich menschlicher, eine tröstliche Empfindung. Als meine Füße den Boden berühren, erschaudere ich. Kälte dringt durch meine Knochen und doch hält es mich nicht davon ab, zu denken: Das muss ein Neuanfang sein...

Bedrückende Stille lastet auf meinen Schultern. Trotzdem mache ich mich nicht auf, um in dem Speisesaal nach Abwechslung zu suchen. Noch bin ich nicht bereit.

Mindestens eine halbe Stunde tigere ich in unserem Zimmer umher, auf der Suche nach Erlösung.

Zoe taucht nicht auf.

Nach einer Weile fasse ich einen Entschluss. Je mehr ich grübele, desto eindeutiger wird es. Dieser Ort - die Ballettakademie - muss mit alledem zusammenhängen. Erst hier habe ich meine Erinnerungen zulassen können und seine warnenden Worte handeln ebenfalls davon. Ich werde Paul aufsuchen. Darauf ansprechen und seine Reaktion beobachten. Etwas anderes bleibt mir ohnehin nicht übrig.


Gerade als mein Verstand völlig wegdriften will, erscheint Paul in meinem Blickfeld. Sofort schrecke ich hoch, hier hätte ich ihn am wenigsten erwartet.

Lässig lehnt er an der Wand, die immer noch den auffälligen Riss trägt, der mir schon beim ersten Mal ins Auge gesprungen ist. Er hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und der Anblick seines Wuschelkopfs lässt mein Herz höher schlagen.

„Endlich", ächze ich, nachdem ich die Schüler im Flur hinter mir gelassen habe.

Er schreckt hoch. „Ella, was machst du hier?" Erstaunt zieht er die Augenbrauen zusammen und sieht sich um. Eine Spur Missbilligung liegt in seiner Haltung. Ich ziehe die Stirn kraus. Sonst hat er mich nicht nur geduldet, sondern sich auch über meine Anwesenheit gefreut.

Betont unbekümmert zucke ich mit den Schultern. „Zufall", stelle ich fest. Hoffentlich verraten mich meine geröteten Wangen nicht.

Ungeduldig tritt er von einem Bein auf das andere. „Können wir uns später unterhalten? Ich warte auf jemanden." Seine Abweisung kränkt mich tief im Inneren.

„Entschuldige, es ist dringend." Verzweifelt ringe ich die Hände. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll..."

„Mach einfach schnell." Er verdreht die sturmgrauen Augen. Liegt Panik darin? Kurzerhand greife ich nach seinem Ärmel und ziehe ihn um die nächste Ecke, in eine dunkle Nische.

Erst dort atme ich erleichtert auf. „Das musste sein. Alles, was ich dich jetzt frage, bleibt unter vier Augen." Ich werfe ihm einen scharfen Blick zu und er nickt widerwillig.

„Also..."

„Ja?", fragt er gereizt. „Ich habe jetzt wirklich keine Zeit. Du kannst das nicht verstehen, musst du auch nicht. Ich versichere dir, in einigen Tagen sind deine Fragen so oder so geklärt." Seine Finger zucken zu dem Ausschnitt seines Pullovers und berühren... eine Silberkette?

Durcheinander klemme ich mir eine Strähne hinters Ohr. Die seltsamen Sätze hallen in meinen Gedanken wider. „Du hast doch keine Ahnung, was ich überhaupt fragen will."

„Ich kann es mir denken."

Das wird ja immer bizarrer. „Hör mal, es geht um deine Bitte. Warum soll ich auf mich aufpassen?"

Plötzlich drückt er mich mit voller Wucht gegen die Wand. Mein Rücken schmerzt unter der geballten Kraft. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann meine Handgelenke nicht aus seinem Stahlgriff befreien. „Ella, es tut mir Leid, was ich dir da ins Hirn gepflanzt habe", raunt er und seine Augen verdunkeln sich. Meine Wirbelsäule knackt, als er sich näher zu mir vorbeugt und die Hände rechts und links von mir platziert. „Es ist nichts, mach dir keine Sorgen. Warte ein paar Tage und dann verstehst du alles, okay?"

Mit einem Ruck stößt er sich ab. Sprachlos funkele ich ihn an. Anstatt eine beruhigende Wirkung auf mich zu haben, wühlen mich seine Beteuerungen noch mehr auf. Doch ehe ich den Mund öffnen kann, stürmt er davon.

Paul ist fort. Zurück bleiben nur der Schmerz in meinen Schulterblättern und die Gewissheit, dass die Akademie mehr verbirgt, als es zunächst den Anschein hat.

LichttänzerWhere stories live. Discover now