Kapitel 12

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Abgestandene Luft schlägt mir entgegen, doch ich genieße den Moment, alleine im Ballettsaal zu sein. In einer fließenden Bewegung lasse ich mich auf dem Boden nieder und breite meine Tasche vor mir aus.
Verdorben. Mein Kiefer knackt gefährlich, als ich die Zähne aufeinander beiße.
Wut, oder gar Abscheu, lodert heiß in mir auf. Meine Augenlider flattern.
Vor ein paar Tagen ist es mir schier unmöglich erschienen, an David zu denken. Ich habe mich vor allem verschlossen.
Aber jetzt... Jetzt gibt es so viel mehr, das mein Leben durcheinander rüttelt und mich zum Nachdenken zwingt. Die Schulleiterin, die mich mit ihren eisblauen Augen durchleuchtet hat, Pauls angsteinflößende Warnungen und die vielen Augenpaare, die bei jeder Gelegenheit auf mir ruhen.
Im nächsten Moment reißt mich der Blumenwalzer von Tschaikowsky aus meinen benebelten Gedanken: Eigentlich eine meiner Lieblingsmelodien, doch heute kann er mich nicht aus meiner Eisstarre herausholen.
Meine Hand zittert, als ich nach dem Handy greife und auf das leuchtende Display schaue.
Mum.
Innerlich ringe ich mit mir, ob ich abheben oder auflegen soll. Elektronische Geräte sind an der Akademie zwar nicht verboten, aber ebenso wenig erwünscht.
Außerdem brennt sich die Wut, die meinen Hals zuschnürt, immer noch einen Weg durch meinen Körper.
Nicht heute, beschließe ich, und tippe nachdrücklich auf den roten Hörer.
Für einen Augenblick schließe ich die Augen und konzentriere mich auf das dumpfe Pochen, das sich von meinen Schläfen hin zum Hinterkopf zieht. Hervorgerufen von dem Misstrauen, der schmerzhaften Erinnerung an Davids Dasein und Zoes fuchsteufelwilde Art.
Ich schlucke. Auch jetzt kribbelt mein ganzer Körper und ich würde am liebsten aufspringen, um diesem Gefühl für immer zu entgehen.
Das Pochen in meinem Kopf wird zu einem regelrechten Dröhnen, das nicht länger erträglich ist.
Ruckartig öffne ich die Augen und sauge Luft in meine Lungen ein. Nur Tanzen könnte helfen.
Erstaunlicherweise brauche ich nicht mal ansatzweise so viel Zeit, um mich fertig zu machen. Wenige Minuten später stehe ich in der Mitte des Saals, bereit, den Frust einzig und allein durch meine Bewegungen fortzupusten.
Eine Hälfte meines Gesichts liegt im Schatten, der andere Teil wird von den letzten, spärlichen Sonnenstrahlen angewärmt.
Ich gewinne immer.
Schon wieder zischen Zoes Worte durch mich hindurch. Wie eine Läusekolonne haben sie sich bei mir eingenistet und verschlimmern alles.
Fast bereue ich es, mich nicht bei meiner Mutter ausgesprochen zu haben. Zu spät.
Schwarze Punkte flimmern vor meinen Augen, doch egal, wie sehr ich sie zusammenkneife, die Flecken verschwinden nicht.
"Ach, egal", fauche ich leise und erschaudere.
Auf meinen Knopfdruck hin setzt die rhythmische Musik im Hintergrund ein.
Meine Muskeln reagieren darauf.
Die Wut facht meine Bewegungen umso mehr an, als ich ein Bein vorstrecke und den Rücken durchbiege. Es fühlt sich so an, als wäre sie überall.
Irgendetwas ist anders.
Nicht nur, dass mein Schädel quasi explodiert, während die Bässe auf mich einwummern. Nein, das ist es nicht, aber gleichzeitig kann ich nicht erfassen, was mich so aus dem Takt bringt.
Als ich mich auf die ganze Spitze erhebe, ergibt mein Körper wieder eine Linie.
Trotzdem nimmt der Streit mit dieser arroganten Oberzicke den größten Teil meiner Gedanken ein. Sie ist die Letzte, die über mich urteilen kann!
Verbissen wirbele ich durch den Raum.
Die verhoffte Wirkung, die sonst immer beim Tanzen eintritt, erreicht mich heute nicht. Vor Enttäuschung stoße ich mich vom Boden ab und segele durch die Luft. Aber die bedrückte Stimmung lässt sich nicht abschütteln.
"O Mann!", schreie ich. Verärgerung färbt meine Stimme.
Mindestens eine halbe Stunde lang versuche ich alles Mögliche, während meine Frustration weiter wächst. Nicht mal das einfachste Tendu gelingt mir ohne Patzer.
Ich wette, jeder hier würde über mich lachen, wenn er mich jetzt sehen würde: Die Stipendiatin, die sich von ein paar kleinen Taten verunsichern lässt!
Die Zeit zieht sich endlos hin und ich werde immer übelgelaunter. Beim Gedanken an die erste Ballettstunde kommt mir der Mageninhalt vom Essen vorhin hoch, weil sich mein Versagen schon vor meinem inneren Auge abspielt.
So wird es kommen. Verzweifelt wische ich mir über die Stirn.
Irgendwann - dann, als ich gerade das letzte Fünkchen Hoffnung verloren habe - geschieht etwas mit mir. Als würde etwas in mir einrasten; ein Zahnrad oder so. Plötzlich ist alles an der richtigen Stelle, wie es sein sollte.
Feuer und Flamme schalte ich die Musik wieder ein und vollführe ein perfektes Ronde de Jambe. Jeder Teil meines Körpers kribbelt, als würden Unmengen von kleinen Stromschlägen durch mich hindurch geschickt werden. Eine unsichtbare Macht pulsiert in meinen Beinen, die mich dazu drängt, weiterzutanzen.
Auf Spitze spüre ich nicht einmal mehr den Druck, der auf meinen Zehen lastet. Meine Gedanken vermischen sich mit den Pirouetten, bis ich mich fühle, als könnte ich zum Himmel aufsteigen.
Der ohnehin schon schlicht gehalte Raum rückt nun vollkommen aus meinem Bewusstsein. Er ist einfach nicht mehr da; verschwunden.
Die Klangfarbe der Melodie ändert sich. Nun erscheint sie mir dunkler, fast beängstigend.
Während mein Sichtfeld zu einem grauen Brei verschwimmt, verliere ich langsam die Kontrolle über meine Ausführungen.
Sie verfließen ineinander und ich merke selbst, wie ich immer mehr zu einer willenlosen Marionette werden.
Hilfe!
In einem wahnwitzigen Spiel mit der Musik drehe ich mich um die eigene Achse. Ein, zwei, drei Mal.
Schwindel befällt mich. Schweißperlen rinnen meinen Rücken hinunter, versickern in dem dünnen Stoff meines Trikots.
Plötzlich setzt der stechende Schmerz in meiner Brust wieder ein. Beengt mich. Das Gefühl, nicht mehr frei atmen zu können, bringt mich an den Rande einer Ohnmacht.
Keuchend hebe ich die Arme über meinen Körper, recke mich empor. Ich wehre mich gegen den Strudel, der versucht, mich in die Tiefe zu reißen. Vergeblich.
Hitze, wie flüssige Lava, frisst sich ein Loch in meine Brust hinein. Im Sekundentakt schraubt sich die Wärme in die Höhe, bis ich mich fühle, als würde ich im Inneren verkohlen.
Ich halte die Luft an, springe höher und weiter, als ich es je getan habe.
Tausend kleine Nadelstiche kribbeln in meinen Oberschenkeln. Was mache ich hier bloß?, flüstert eine Stimme mir ein.
Grazil biege ich mich, meine Knochen fühlen sich wie Wachs an.
Und dann färbt sich alles, was sich in meinem Blickfeld befindet, kohlrabenschwarz. Ganz plötzlich.
Die Augen weit aufgerissen, springe ich in die Luft.
Gähnende Leere und unendliche Dunkelheit empfangen mich.

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