Kapitel 6

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Fynn bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Marlon hätte ihm wohl nie verheimlichen können, wie schrecklich er sich im Moment fühlte. Kaum kam er in sein Zimmer, hockte der Igel bereits auf dem Fenstersims und erwartete eine ausreichende Erklärung.

»Willst du mir nicht sagen, was geschehen ist?«

»Eigentlich nicht«, winkte Marlon ab und ließ sich erschöpft auf das Bett fallen.

»Und das Blut auf deinem Laken?« Fynn kam zu ihm herüber und deutete auf die getrockneten Flecken. Marlon seufzte nur. Ihm war bewusst, dass es schwierig bis unmöglich war, dem aufmerksamen Tier etwas zu verschweigen. Früher oder später erfuhr er es sowieso. Da war es mit Sicherheit besser, wenn er ihm gleich davon erzählte.

Allerdings bereitete ihm das Drachenmal große Sorgen. Pibbs Reaktion zeigte, dass seine Angst berechtigt war. Es handelte sich um etwas Furchtbares.

»Ich habe mich geschnitten, das ist alles«, sagte Marlon so ruhig wie möglich. Immerhin war es keine Lüge. Auch wenn es unausweichlich war, Fynn einzuweihen, wollte er es hinauszögern. Zumindest so lang, bis er sich an den Gedanken gewöhnt hatte und bereit war, die Wahrheit darüber zu hören.

»Da ist doch noch mehr.« Fynn kam ganz nah an ihn heran. Er starrte ihm tief in die Augen. Er kannte ihn inzwischen gut genug, um aus seinem Gesicht herauslesen zu können und dafür hasste Marlon ihn in diesem Augenblick. »Sag schon, was passiert ist, du siehst völlig erschöpft aus.«

Marlon legte seine Arme hinter den Kopf und schaute gegen die Decke, um Fynns Blick auszuweichen.

»Es war nur ein langer Tag«, seufzte er. »Ein sehr langer Tag.«

»Du willst wirklich nicht darüber reden, oder?« Der Igel klang beinahe ein bisschen verärgert und stapfte wieder auf das Fenstersims. Dort hockte er sich auf einen Stapel Papier, auf dem er stets herumkritzelte.

Marlon schaffte es kaum zuzuordnen, welche Gefühle ihn im Moment überwältigten. Seine Angst vor der Musterung auf seiner Haut war groß und doch überwog die Schuld, die er sich selbst gab. Nicht nur, dass er bereute, all den Menschen aus Dronar den Tod gewünscht zu haben. Manche von ihnen mochten diese Gedanken vielleicht verdient haben, aber Marlon hatte kein Recht, darüber zu urteilen.

Schrecklicher war der Gedanke an Hannah. Er zwang sich dazu, den entsetzten Gesichtsausdruck zu vergessen. Er fragte sich, was in ihrem Kopf vorgegangen war. Spätestens jetzt verabscheute sie ihn bestimmt genauso sehr, wie die anderen. Nun bemerkte sie, dass es ein Fehler war, ihn verteidigt zu haben.

Marlon kniff die Augen zusammen, obwohl dann die Bilder in seinem Kopf wieder auftauchten. Doch im Moment war die Fratze des Drachen allemal besser, als Hannah leiden zu sehen. Je länger er sich in den Eindrücken verlor, umso leichter wurde es für ihn. Er gewöhnte sich an den Anblick des Monsters und auch an die verzerrten Schreie, die er unentwegt hörte. Auch an das verheißungsvolle Flüstern, das ebenso laut wie die Rufe durch seinen Schädel drang. Selbst wenn es noch immer einschüchternd und verstörend war, so fand sich Marlon langsam damit ab, dass dies nun zu seinem Alltag gehörte.

Er wusste nicht, wie lange er von seinen Vorstellungen eingenommen war, als Fynn sich schließlich räusperte.

»Ist irgendetwas Außergewöhnliches passiert? Ein prägendes Erlebnis?«, begann Fynn erneut das Gespräch und schielte verstohlen zu Marlon herüber. Seufzend schüttelte er den Kopf. Der Igel wusste Bescheid, das merkte er deutlich an seiner Stimmlage. Er erkundigte sich lediglich aus reiner Höflichkeit. Das sah ihm ähnlich. So hatte er Marlon bereits das eine oder andere Geheimnis entlockt. Und am Ende sollte er denken, er hätte es aus freien Stücken erzählt. Dabei war der Igel einfach geschickt genug, die richtigen Fragen zu stellen.

Der GezeichneteOù les histoires vivent. Découvrez maintenant