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Ich starre in die leicht erstaunten Gesichter von etwa sieben Jugendlichen. Meine Gedanken schwirren umher und ich versuche verzweifelt einen klaren Kopf zu behalten. Was mir eher nicht gelingt, stattdessen versuche ich ein wenig zu sehr die letzten paar Sekunden Revue passieren lassen.

"Hallo, bist du Julie Olen?", fragt mich eine Frau die etwa im Alter meiner Mutter ist. Wahrscheinlich ist es die Leiterin, da die restlichen Leute allesamt viel jünger sind als sie.

Erst jetzt bemerke ich, dass ich die Leute in diesem Raum wie eine Bekloppte angestarrt habe.

"Ähm...Was?", frage ich verwirrt und schüttle meinen Kopf, als könnte ich so meine Gedanken ordnen. Es hilft gar nicht, im Gegenteil, ich bemerke sogar einen Anflug von Kopfschmerzen.

Ein gequältes Lächeln ziert mein Gesicht, als ich versuche meine Unsicherheit gegenüber diesen Leuten zu verstecken. Die Leiterin schenkt mir ein warmes Lächeln und deutet auf den einzig freien Platz im Kreis. Ich gehe langsam zum Platz und setze mich erleichtert hin.

Jetzt habe ich die perfekte Sicht auf alle Mitglieder dieser Gruppe, die aus drei weiteren Mädchen und vier Jungs besteht. Alle sehen so aus, als wären sie normale Jugendliche mit einem normalen Teenagerleben. Doch, das weiss sogar ich, sie sind alle aus dem Grund hier wie ich.

Wegen Problemen, körperlichen und seelischen, die keinen gesundheitlichen Hintergrund haben oder zumindest keinen sehr Bekannten. Behinderungen des Gedächtnisses gehören sehr wohl auch dazu.

"Wollen wir beginnen?", fragt die Leiterin und fährt dann fort." Ich bin eure Leiterin und Vertrauensperson in dieser Gruppe. Mein Name ist Stacie Desmond, für euch Stacie, und ich werde mit euch mehrere Gruppensitzungen abhalten. Wir werden auch Ausflüge machen, damit ihr die Anderen noch ein wenig besser kennenlernen könnt und das nicht nur in den Räumen dieses Hauses.", erklärt sie und lächelt in die Runde.

Ich schaue in die Gesichter der anderen Jugendlichen. Alle scheinen etwa in meinem Alter zu sein. Ich schaue in die Runde, in der Hoffnung so etwas wie Widerstand wegen dieser Gruppe zu erkennen, aber dem ist nicht so. Stattdessen bleibt mein Blick an einem grünen Augenpaar hängen, die mich anstarren, als sei ich aus einer anderen Welt. Er hat haselnussbraunes, leicht gelocktes Haar und seine Augen scheinen wie zwei Smaragde. Es fällt mir schwer den Blick abzuwenden, aber ich tue es trotzdem.

"Am besten beginnen wir mit einer Vorstellungsrunde, in der ihr euch vorstellen könnt. Erzählt einfach über euer Laster und deren Auswirkungen.", fängt die Leiterin freundlich in die Runde an zu sprechen.

Dann fällt ihr Blick auf mich. Ich weiss schon bevor sie etwas sagt, das ich jetzt in den sauren Apfel beissen muss. Innerlich versuche ich mich an irgendetwas zu Erinnern, dass mir Mut schenken könnte. Doch mein Kopf ist wieder einmal leer.

"Julie, erzähl doch bitte was dich hierhergetrieben hat und was dein noch junges Leben belastet."

Was mich belastet? Ernsthaft?

Ich hole tief Luft und sehe dann in die Runde, wo ich von allen mit ein wenig Neugier angegafft werde. Ihre Blicke sind irgendwie unangenehm und ich komme mir vor wie bei einer Gerichtsverhandlung. Vor allem ein Blick ist mir unangenehm.

Die grünen Augen. Sie scheinen mich erneut zu durchdringen und jeden Teil meines Lebens, ohne das ich überhaupt etwas gesagt habe, zu erforschen und zu hinterfragen.

Ich bin vollkommen verwirrt, habe das Gefühl, ich vergesse jede Sekunde die vergeht. Vielleicht ist es aber auch nur eine kleine Illusion und völlig harmlos.

"Ich...Ähm...", fange ich stotternd an, versuche verzweifelt ein wenig Fassung zu bewahren.

Ich balle meine Hände zu einer Faust und versuche mich daran zu erinnern, was meine Mutter mir vor langer Zeit mal gesagt hat, aber es fällt mir schwer. So schwer, dass sich mein Anflug auf Kopfschmerzen noch ein wenig verstärkt.

"Alles in Ordnung, du brauchst keine Angst zu haben. Falls du noch einen Moment brauchst-", versucht mich Stacie zu beruhigen, aber ich winke ab.

Ich will keine Schwäche zeigen. Das Einzige, das mir im Moment wichtig erscheint, ist, dass ich zeige das ich diese Gruppe nicht brauche.

"Nein, schon okay. Ich fange einfach mal an.", ich versuche zu lächeln, was mir erstaunlicherweise gelingt.

Plötzlich werde ich von einer Welle Mut durchzogen, die mir mehr als nur ein wenig hilft. Ich fühle mich als könnte ich alle dunkeln Schatten meiner Vergangenheit auslöschen und neue Erinnerungen aufdecken.

"Mein Name ist Julie Olen, ich bin 17 Jahre alt und Vergesse.", fange ich an und lasse diese wenigen Worte kurz wirken. Ein Blick in mein 'Publikum' verrät mir, dass die Wenigsten ein wenig Angst zeigen, stattdessen sehe ich so etwas wie Mitleid.

"Klar, vergessen tut jeder, doch ich, ich vergesse Dinge, Namen, Geschehnisse und kann mich plötzlich an nichts mehr erinnern. Fast wie ein Blackout. Ich lebe ein Leben ohne Vergangenheit.", fahre ich fort und lächle anschliessend, um zu zeigen, dass mich diese Vergessenheit in keiner Weise behindert.

Die Anderen sind nicht sonderlich...erfreut, so kann man das Ganze erklären. Stattdessen fange ich nur leicht skeptische Blicke auf.

"Okay, danke Julie. Hoffen wir das diese Gruppensitzungen in Erinnerung bleiben.", sagt die Leiterin freundlich und setzt das Kennenlernding fort.

Es fallen diverse Krankheiten oder Beschwerden. Magersucht, Kopfschmerzen ohne Grund oder normale Depressionen. Es ist merkwürdig zu wissen, dass alle diese unscheinbaren Jugendlichen, mit solch schlimmen Dingen zu kämpfen haben.

Das Schicksal einer Person, dieser einen Person, jagt mir einen Schauer über den Rücken.

"Hey Zusammen, ich bin John Gordon, 17 Jahre alt und verliere mein Augenlicht. Ich kann im Moment noch sehen, aber die Welt um mich herum wird von Tag zu Tag dunkler, bis sie komplett erlischt. Dann bleiben mir nur noch die Erinnerungen.", stellt John sich vor.

Ich weiss nicht warum ich erschaudere, ob es an der Tatsache liegt das er einen solchen Schicksalsschlag ertragen muss oder die Tatsache dass er mich die ganze Zeit mit seinen grünen Augen angesehen hat.

Zum Glück ist die Stunde schon bald rum, falls diese Gruppensitzungen überhaupt solange gehen.

"Ich glaube das waren alle. Ich denke wir machen für heute Schluss. Ich hoffe wir sehen uns am Freitag wieder.", verabschiedet sich Stacie, bevor alle aufstehen und gehen.

Ich habe gar nicht gewusst, dass diese Sitzungen zweimal in der Woche stattfinden. Aber viel gebracht hat diese Gruppe nicht, darum hoffe ich das Mom mich zu Hause bleiben lässt. Diese Gesichter, unscheinbar und ohne jegliche Sorge, machen mich fast wahnsinnig. Vor allem die Blicke von John, von seinen grünen Augen, macht mir zu schaffen.

Vor ihm fühle ich mich irgendwie nackt. Entblösst mit der harten Wahrheit meines Lebens. Die Wahrheit die ich nicht wahrhaben will. Vielleicht ist genau das ein Grund, nicht wieder herzukommen.

Diese grünen Augen, diese Entblössung vor den Anderen. Diese Vergessenheit, die mir mehr zusetzt als ich wahrhaben will.

Vielleicht sollte ich doch wiederkommen, nur um meine Vergessenheit etwas vergessen zu lassen. Nur damit ich ein wenig Platz für schöne Erinnerungen habe, die ich die meiste Zeit so oder so nur vergesse.

Im Moment sind die grössten Feinde diese grünen Augen. Sie lassen mich schwach wirken und lassen die Wahrheit meines Lebens zum Vorschein kommen.

Sie lassen mein Leiden hervortreten.

RememberWhere stories live. Discover now