Kapitel [3]

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Kapitel 3 - Chips

»Wollten dich deine Eltern nicht besuchen?«

Ich seufzte. Inzwischen war es sogar meiner Zimmergenossin mit ihrer nicht vorhandenen Intelligenz aufgefallen, dass meine Eltern sich seit 12 Tagen nicht mehr blicken lassen haben. Jeder andere Teenager hätte weinend seine Familie gebeten, sie zu besuchen; ich hingegen genoss die Ruhe. Hätten sich meine Eltern einfach irgendwie gemeldet - eine SMS hätte vollkommen ausgereicht - und mir den Grund für ihr Fernbleiben genannt, ich würde trotzdem neben einem gleichaltrigen Mädchen sitzen und Kartoffelchips in mich hineinstopfen. »Vielleicht haben sie einfach die Schnauze voll von einem Spast?«, brummte ich und griff erneut nach den gewürzten Naschereien. »Sue, hör auf damit!« Meine Freundin schlug meine Hand weg und drückte die Chips-Tüte an sich. »Womit?« Mein genervter, gelangweilter und andererseits auch neugierige Blick begegnete dem Ihren. Vorwurfsvoll sah sie mich an. »Mädchen, du sollst hier nicht rausrollen, kapiert? Außerdem bist du bestimmt eine hässliche, fette Kuh...« »Als ob ich das nicht auch so würde. Ist doch dann eh egal, ob ich dick bin oder nicht.« »Oh. Sorry, Girl. Ich wollte eigentlich fragen, ob du als fette Kuh das Krankenhaus verlassen willst?« Ich zuckte mit den Schultern. Theoretisch betrachtet, war es wirklich egal, ob ich nun knappe 60 oder volle 120 Kilogramm auf die Waage brachte; ich hatte immerhin all meine Freunde beziehungsweise meine Familie verloren. Niemand achtete heutzutage auf die inneren Werte, stets ist der erste Eindruck - das Aussehen, der Kleidungsstil - wichtig. Ich kenne kaum einen jungen Mann, der sich auf eine hässliche, dicke Frau eingelassen hat, nur weil er ihre Persönlichkeit wundervoll findet. Die meisten meiner männlichen Bekanntschaften wollte nur eine kleine Nummer schieben und gab dir den Laufpass -wenn du einen großen Vorbau hattest und ziemlich geil warst. Da ich weder das eine, noch das andere war oder hatte, waren meine Chancen, einen gutaussehenden Typen zu bekommen, gleich Null. Warum dann noch auf das Gewicht achten? Vielleicht werde ich nicht fett, sondern meine Brüste werden einfach größer? »'nen Versuch isses wert.« »Welchen Versuch?« Ich riss die Tüte wieder an mich und schob eine Handvoll Chips in meinen Mund. »Vielleicht werde ich nicht fett, sondern meine Ti-...« »Vergiss es. Funktioniert nicht.« »Woher willst du das bitte wissen?«, grunzte ich und betrachtete die halbvolle Tüte auf meinem Schoß. »Ich hab's probiert. Sue, ich war so fett wie ein Nilpferd.« Okay. Mir fiel es durchaus schwer, dieses dünne Persönchen neben mir als Nilpferd zu sehen... aber okay. Warum nicht. »Und weißt du was das Schlimmste an der ganzen Sache war?« Nein, aber ich wette, du sagst es mir eh. »Ich war nicht nur fett, hässlich und ein Nilpferd. Meine Brüste waren noch immer so klein wie vorher.« »Oh.« Mein Blick wanderte von den Süßigkeiten in meiner Hand zu meiner Freundin. »Wie bist du wieder so schlank geworden?« »Haben dich die Ärzte nicht informiert?« Mein fragender und teilweise verwirrter Blick war anscheinend Antwort genug, denn das Mädchen, mit dem ich mir ein Zimmer teilte, seufzte ehe sie mich aufzuklären begann. »Bestimmt denkst du, ich habe Kreislauf- oder Magen-Darm-Probleme. Fakt ist, ich habe weder das eine, noch das andere, klar? Ich bin ein halber Psycho. Traurig, aber wahr. Ich war vor circa vier Monaten noch fett. Ja, ich war da noch ein Nilpferd. Und jetzt, jetzt bin ich krank.« Sie räusperte sich und nahm die Tüte, welche sie gekonnt in die Luft warf und auffing, ohne etwas zu verschütten. »Ich hab viel gegessen. Viel zu viel. Ungesund war damals mein zweiter Vorname. Irgendwann nach ein paar Wochen hat das Mobbing angefangen. Ich war seelisch und körperlich ein Wrack. Meine Eltern haben mich zum Sport angemeldet, doch ich weigerte mich. Ich wurde fetter und fetter, bis ich es las. Ich fand heraus, dass ich, wenn ich weiterhin so viel Fettiges in mich reinstopfte, sterben würde. Und somit fing ich an abzunehmen.« Sie machte eine kurze Pause und sah mich abwartend an. »Wo ist das Problem?« »Das Problem? Eher der Fehler. Ich hab zu viel abgenommen.« »Zu viel?« Meiner Meinung nach war sie auf ihre eigene Art und Weise hübsch, sogar sehr hübsch. »Sue, siehst du es denn nicht?« Ich schüttelte meinen Kopf und sah sie mir genauer an. Zugegeben, ihre Wangenknochen stachen schon ziemlich stark hervor, ihre Hände waren schmal, die Arme dünn. Aber vielleicht war sie einfach so dünn?

»Ich bin noch immer ein Wrack. Nur diesmal fehlt mir das rettende Fett, das mich vom Untergehen hätte retten können.«

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[23.11.15] ~Mα∂αмєPσттιηє.


Three.Where stories live. Discover now