Kapitel [8]

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Kapitel 8 - Freunde

Ich zog den Lippenstift nochmals nach und betrachtete mich im großen Wandspiegel meines Zimmers. Inzwischen bewohnte ich das alte Arbeitszimmer meines Vaters, da es erstens im Erdgeschoss lag und zweitens groß genug für einen pubertierenden Teenager war. Meine Eltern hatten während meines Krankenhausaufenthaltes umgeräumt. Das ehemalige Büro war mein neues Schlafzimmer, mein Altes wurde nun als Büro genutzt; das kleine Bad nebenan wurde behindertengerecht umgebaut – sprich: ebenerdige Dusche mit ausklappbarem Sitz, ein Haltegriff am Klo – und die Türen im gesamten Geschoss waren breiter, sodass ich bequem hindurch kam ohne mir die Hände einzuklemmen. Dennoch war es ungewohnt, im eigenen Zuhause kaum noch irgendetwas alleine machen zu können. Immer wieder rief ich nach meiner Mutter oder meinem Vater, da hier oder sonst wo nicht hinkam. Meist waren unsere Schränke so hoch, dass ich es erst gar nicht versuchte. Trotz meines Wunsches, die Gläser und Teller unterhalb der Theke einzuräumen, bestand die Tussi von Mutter darauf, sie oben in den Hängeschrank zu stellen. Dass ich sie deshalb rufen musste, geschah ihr recht. Entweder sie kam mir zuvor oder sie musste mir nachrennen. Karma halt. »Susann, kommst du irgendwann? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, meine Freundinnen haben auch besseres zu tun«, rief meine Mutter von der Küche aus. Ich seufzte. Als ob sie kaum Zeit hatte. Sie saßen eh nur in einem protzigen Café, tranken überteuerten Kaffee und zerrissen sich die geschminkten Mäuler über irgendwelche Passanten, die einen unmöglichen Kleidungsstil hatten, über irgendwelche Prominente, die gerade über die roten Teppiche Hollywoods stolzierten und die frisch operierten Plastikbrüste der Öffentlichkeit präsentierten, oder bemitleideten meine Mum, die zuhause einen Krüppel sitzen hatte. So etwas war wichtiger als die eigene, frisch operierte und gehbehinderte Tochter, die sich nachts die Seele aus dem Leib heulte. Alles war wichtiger als ich. Natürlich. »Susann?!« »Ja, Mama! Ich komm' schon, keine Sorge!«, knurrte ich genervt und rollte aus meinem Zimmer in den Flur. »Hast du alles, Spätzchen?«, brummte mein Dad mir über den Kopf streichend. Ich nickte und nahm meine Jacke entgegen, die er mir reichte. »Pass auf dich auf und hab...« »Dad, ich geh auf 'ne Beerdigung. Niemand wird mich vergewaltigen wollen und ich werde sicherlich keinen Spaß haben, während ich mir die Augen aus dem Kopf heule. Okay?« Stumm nickte er und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich schlang meinen Arm um seine Hüfte und drückte ihn kurz. »Wann kommst du heim?« »Mal schauen. Weiß ich noch nicht. Aber ich melde mich, ja?«, flüsterte ich und löste mich von ihm. Er nickte wieder, doch diesmal lächelte er mich an. »Susann, kommst du!« »Kann es sein, dass Mum immer total unpassend ist?«, seufzte ich und wurde von meinem Vater zur Haustür geschoben. »So war sie schon immer«, lachte Dad und half mir beim Einsteigen ins Auto. Ich war noch immer auf Andere angewiesen, was so etwas anging. Zwar hatte ich letzte Woche meinen Gips wegbekommen, doch meine Beine sahen schon etwas... ungewohnt und unnatürlich dünn aus. Doch zu meinem Glück war meine Tratsch- und Shoppingsüchtige Mutter vor wenigen Tagen mit einem schwarzen, bodenlangen Kleid aus Spitze aufgetaucht. Anscheinend war ihr Talent, Dads Vermögen für überteuerte Klamotten aus dem Fenster zu schmeißen, durchaus auch nützlich. »Können wir gehen?«, fragte meine Mutter nochmals und drehte sich zu mir um, da ich hinten im Auto saß. »Du kannst ja gehen. Ich rolle oder fahre lieber.« Mum sah mich erst überrascht an, dann kicherte sie gekünstelt und verstand meinen Wink mit dem Zaunpfahl. »Susann, du hast einen wirklich ausgeprägten Humor«, murmelte sie und fuhr los. «Das ist kein Humor. Das ist meine Art, mich anderen mitzuteilen.« »Woher haste denn so 'nen Spruch?« »Krankenhaus.« Damit war das Gespräch beendet. So war es immer. Irgendwer nahm nur das Wort Krankenhaus in den Mund und es war vorbei. Meine Mutter wurde manchmal bleich und verstummte, mein Vater verschwand unter irgendeinem Vorwand und meine Tante amüsierte sich köstlich, indem sie mich über alle möglichen Krankheiten ausfragte. Allerdings brach sie unsere kleine Fragerunde immer wieder beim Thema Magersucht oder Behinderung ab. War wohl dann doch zu viel für ihr altes, schwaches und versnobte Herz? Ich konnte immer nie glauben, dass diese grässliche Frau die ältere Schwester meines Vaters war. Sie hatte den Hang zu bissigen, abwertenden und grundlosen (oft auch niveaulosen) Bemerkungen, wohingegen mein Dad eine Persönlichkeit aus Gold hatte. Wie ironisch das Schicksal doch war, dass gerade er sich mit mir herumschlagen musste, während seine am Stock gehende Blutsverwandte sich auf Wichtigeres im Leben konzentrieren konnte. Andererseits: er hatte eine Tochter und eine Ehefrau. Sie hatte niemanden, der sie wirklich liebte. Und er war immer gehässig zu ihr, das hatte mir meine rothaarige Großmutter zumindest immer erzählt. Gleichstand beziehungsweise Karma. »Soll ich dich direkt abliefern oder willst du, dass ich dich ein Stück vorher herauslasse?« »Mum?« »Ja?« Meine Mutter hielt am Straßenrand und drehte sich so gut es ging zu mir um. »Ich kann nicht.« »Oh. Soll ich dich heimfahren?« »Nein. Ich kann nicht... einfach aussteigen und dann quer durch die halbe Stadt fahren... du weißt schon.« Verwirrt sah sie mich an. Anscheinend war sie mit mehr Schönheit als mit Verstand gesegnet worden. »Wie meinst du das, Susann? Du kannst doch aussteigen und fährst dann einfach?« »Ich hab die Kraft dazu noch nicht, okay. Fahr mich einfach bis dorthin, hilf mir aus diesem faradayschen Käfig heraus und fertig.« »Okay... dann mach ich das.« Sie warf mir einen entschuldigen Blick durch den Spiegel zu. »Tut mir Leid, Liebling.« Es tat ihr Leid. Was tat ihr Leid? Die Tatsache, dass ich im Rollstuhl saß und mich kaum alleine zu Recht fand, ständig auf andere angewiesen war und mich wie ein Kleinkind verhielt? Die Tatsache, dass ich seit mehreren Wochen einen Behindertenausweis hatte und scheinbar überall parken durfte, da ich nun offiziell als behindert anerkannt wurde? Die Tatsache, dass ich meine Freunde durch einen scheiß Unfall verloren hatte und mich alle ignorierten oder behandelten, als ob ich nun vollkommen eine Schraube locker haben würde? Die Tatsache, dass mich bereits mehrere Menschen zum Suizid anfeuerten? Die Tatsache, dass ich eine Freundin durch Suizid verloren hatte? Die Tatsache, dass ich wie der letzte Penner aussah, jeder Mensch mich mied und ich nur aus dem Haus ging, um meine wöchentlichen Therapiestunden mit meiner Psycho-Tante abzuhalten? Was genau tat ihr leid? Mein Leben?

Three.Where stories live. Discover now