Kapitel 2

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Robin

Ich liege reglos in meinem Bett und starre auf die roten, in einem langsamen, einschläfernden Rhythmus flackernden Lichter an meiner Wand, die sich gleichmäßig hin und her bewegen, als würden sie unmerklich zu einer kaum hörbaren Musik tanzen. Bereit dazu, mir zu zeigen, was auch immer ich sehen will.

Tempus", murmele ich leise den Begriff der Zeit. Schon verbinden die Lichter sich und formen ein Hologramm aus Zahlen, welches mich ablesen lässt, wie spät es ist.

Zehn nach drei...

Ich stöhne frustriert auf. Normalerweise sollte ich wie jeder andere Mensch der Gesellschaft schon seit Stunden tief und fest schlafen, doch noch immer halten mich meine Gedanken wach - genau wie in jeder bisherigen Nacht. Mit einem unzufriedenen Seufzen rolle ich mich auf die Seite, dann auf den Bauch... und nach wenigen Minuten wieder auf den Rücken.

Mein Körper schreit sehnsüchtig nach Schlaf, doch meine Gedanken lassen es nicht zu. Abgesehen davon, dass es mir innerlich schrecklich geht, sieht man mir die fehlende Energie auch an den dunklen Ringen an, die ich jeden Morgen unter meinen müden Augen entdecke, welche mir aus dem Spiegel entgegenblicken.

Es sind bereits zwei Monate vergangen, seitdem es passiert ist und noch immer gebe ich mir die Schuld daran, kann nicht einschlafen oder wache schweißgebadet aus Albträumen auf. In denen immer wieder ein und dieselbe Situation wiederholt wird. Als ich klein war, haben meine Eltern mir bei schlimmen Träumen jedes Mal beruhigende Worte zugeflüstert, mir eine Pille gegeben und gesagt, dass alles besser werden würde, sobald ich aufwache.

Doch nun ist es nicht mehr so einfach... Wenn ich aus dem Albtraum aufwache, ist er nicht vorbei. Diese Erkenntnis trifft mich jedes Mal wie ein Schlag in den Magen. Ich kann mich weder in den Schlaf flüchten, noch an irgendeinen anderen Ort, da mich die Erinnerungen verfolgen.

Ich war es, der nicht auf sie aufgepasst hat und unvorsichtig geworden ist. Ich habe zugelassen, dass sie von den Leuten der Regierung mitgenommen wurde, weil ich nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen bin, weil ich sie nicht... "Du bist so ein Idiot", sage ich tonlos und spüre, wie meine Stimme bricht. Der Kloß in meinem Hals macht sich bemerkbar.

Langsam setze ich mich auf, vergrabe das Gesicht in den Händen und kämpfe nicht länger gegen die schon lange in mir aufkeimenden Tränen an. Ein leiser Schluchzer entfährt mir und im nächsten Moment hasse ich mich dafür, dass ich so verzweifelt und hilflos bin. Das Ganze habe ich doch mir selbst zu verdanken... Der nächste Schluchzer schüttelt mich.

In meinem Inneren befindet sich seit zwei Monaten eine unnatürliche Leere, die nichts füllen kann. Wie ein schwarzes Loch, welches sich beständig in mir ausbreitet und gegen das ich absolut machtlos bin. Genau wie gegen meine Fehler, die ich in der Vergangenheit begangen habe, die ich nicht mehr ändern kann. Mit denen ich leben und die ich akzeptieren muss, egal wie schwer es mir fällt.

Maya war wie eine kleine Schwester für mich, sie war meine beste Freundin... Ich presse meine von salzigen Tränen befeuchteten Lippen zusammen und schüttele in stummen Widerspruch den Kopf.

Nein.

Sie war viel mehr für mich als bloß eine Freundin.

Instinktiv forme ich meine Hand zur Faust und blicke auf meine ohnehin schon schwer verwundeten Fingerknöchel, welche aufgeschürft und an manchen Stellen bereits verkrustet sind. Sie schmerzen bei jeder minimalen Bewegung, die ich mit den Fingern ausübe.

Schon viel zu oft habe ich mich von der Verzweiflung leiten lassen und ununterbrochen gegen die Wand geschlagen, wie ein Irrer. Immer wieder, in der Hoffnung, dass purer Schmerz meine Trauer und Enttäuschung verdrängen oder mildern könnte. Dass es mich taub machen würde, bis ich keines der Gefühle mehr empfinde.

Dabei weiß ich ganz genau, dass es nichts gibt, was mir helfen kann, Maya zu vergessen und mich mit ihrem Schicksal abzufinden.

Kein Schmerz, keine Art der Ablenkung, kein Alkohol, keine anderen Mädchen...

Viel zu oft habe ich nicht gewusst, wie ich meinen unzähmbaren Zorn oder die Trauer herauslassen soll, da die Gesellschaft nicht davon ausgeht, dass wir ihn aus irgendeinem Grund je empfinden. Uns wurde nie beigebracht, mit irgendeiner Art von negativen Gefühlen umzugehen, deshalb überfordern sie mich komplett. Und das jeden einzelnen Abend aufs Neue.

Tagsüber fällt es mir leichter, zu verdrängen, was mich von innen zerfrisst. Da sind zum Einen andere Menschen, die mich ablenken. Oder viele Pflichten, auf die ich mich konzentrieren muss.

Doch wenn ich abends in meiner Wohnung bin, ist da nichts mehr, was mich beschäftigt. Mein Kopf kommt mir vor wie ein Käfig, in dem mein Bewusstsein gefangen ist. Ganz allein.

Gefangen mit den vielen Gedanken, Selbstzweifeln und Vorwürfen, die ich mir mache.

Die meisten Menschen manipulieren ihre Gedanken einfach, ebenso wie ihr Gedächtnis.

Mithilfe von Tabletten. Beeinflussen ihre Emotionen so, wie es ihnen passt. Erinnerungen an Verluste, mit deren psychischer Belastung sie nicht klar kommen, löschen sie ohne Weiteres oder machen sie durch die Veränderung minimaler Details erträglicher. Angenehmer.

Dies ist der Luxus unserer Gesellschaft. Doch sie widert mich von Tag zu Tag mehr an.

Auch mir wurden diese Pillen bereits von einigen Medizinern empfohlen, die nach mir gesehen hatten, als ich über einen längeren Zeitraum nicht zur Arbeit erschienen bin, in den ersten Tagen nach Mayas Verschwinden, als ich mich tagelang in meinem Bett verkrochen und jeglichen Kontakt zur Außenwelt abgebrochen habe.

Dankend habe ich die Pillen entgegengenommen und mir angehört, wie oft am Tag ich sie einnehmen muss. Doch ich habe die Tabletten jedes Mal zerstört, sobald die Mediziner weg waren. Oder ich habe sie an Verstecken in meiner Wohnung aufbewahrt, manchmal auch auf der Straße verschwinden lassen, da ich mich dagegen sträube, jede mir noch so traumhaft erscheinende Illusion der Wirklichkeit vorzuziehen.

Ich muss meine Erinnerung daran behalten, was der eigentliche Grund dafür ist und die Schuld daran trägt, dass es mir nun so schlecht geht. Oder besser gesagt wer.

Einzig und allein die Regierung ist für all das verantwortlich. Dessen muss ich mir zu jedem Zeitpunkt und in jeder Situation bewusst sein. Ein weiterer und für mich noch ausschlaggebender Grund, die Pillen nicht einzunehmen, ist natürlich Maya. Natürlich muss ich mich an sie erinnern können.

Egal, wie sehr es mir wehtut.

Maya ist mir viel zu wichtig, um sie einfach aus meinem Leben zu löschen, als hätte sie nie existiert. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als das zuzulassen. Ganz gleich, wie strafbar ich mich dadurch mache, dass ich mich den Befehlen der Mediziner und somit indirekt den Prinzipien der Gesellschaft widersetze, indem ich die Pillen nicht einnehme - alles ist besser, als Maya zu vergessen.

Kurz habe ich ihre Erscheinung vor meinem inneren Auge. Ihre langen braunen Locken. Ihr teils belustigtes, teils genervtes Gesicht, wenn ich mal wieder einen meiner dummen Witze gerissen habe, um sie zum Lachen zu bringen. Ihr Lächeln und ihre grauen Augen, deren Farbe ich noch nie zuvor bei einem anderen Menschen registriert habe und die eines der ersten Dinge gewesen sind, die mich an ihr faszinierten. Ich werde sie wiedersehen.

Dieser Satz hat sich wie ein Mantra in meinem Kopf eingebrannt, welches ich ständig wiederhole, immer wieder, um mich selbst davon zu überzeugen. Ich muss wissen, was die Regierung mit Maya anstellt und ich werde sie da rausholen.

Die Hoffnung trügt uns Menschen oft, doch sie ist das Einzige, woran ich im Moment festhalten kann. Es ist der einzige Gedanke, der seit zwei Monaten mein Leben zu beherrschen scheint. Der einzige Gedanke, der mich dazu bringt, jeden Morgen aufzustehen und mich der langweiligen Routine meines scheinbar wunderbaren Lebens im perfekten System zu stellen. Erneut balle ich meine Faust und forme stumm die Worte mit meinen Lippen, deren Echo in meinem Kopf zu hallen scheint.

Ich. Werde. Sie. Wiedersehen.

Captured - Fehler des SystemsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt