S E C H Z E H N

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Ich sprang aus dem Wagen, noch bevor Nate ihn in unserer Einfahrt richtig zum Stehen brachte und rannte mit schummrigen Blick auf die Haustür zu, als sei sie das Licht am Ende eines dunklen Tunnels. Tatsächlich nahm ich nichts anderes wahr außer des gepflasterten Weges, der mir auf einmal so fremd vorkam, als würde ich ihn nicht täglich passieren. Ich hatte es so eilig, zu der Klingel zu kommen, dass ich lediglich die mittlere der drei Treppenstufen zur Haustür nahm, wobei meine von der siebenstündigen Fahrt ermüdeten Beine mir einen Strich durch die Rechnung machten und mich fast hinfallen ließen, weil sie so viel Bewegung gar nicht mehr gewohnt waren. Aber ich fing mich und drückte mit zittrigen Fingern auf den kleinen, runden Knopf, ehe ich dazu überging, hart mit meiner Faust auf das Holz der Haustür einzuschlagen. So hart, dass ich morgen definitiv blaue Flecken davontragen würde, doch in diesem Moment nahm ich den Schmerz nicht wahr. Seitdem wir losgefahren waren, befand ich mich in einer Art Trance. Meine unerträgliche Müdigkeit und die vom Alkohol verursachten Kopfschmerzen ließen mich kaum einen klaren Gedanken fassten, ich hatte die Highways nur im Halbschlaf erlebt, war immer wieder panisch hochgeschreckt und musste mich zusammenreißen, nicht in Tränen auszubrechen, weil ich mit der ganzen Situation so überfordert war.

„Maylea", hörte ich Nate hinter mir sagen, als ich zum wiederholten Male wie wild auf die Klingel drückte. „Maylea. Hey." Behutsam zog er an meinen Arm, doch ich riss ihn los, fuhr mit dem Sturmklingeln fort, bis er meinen Arm ein weiteres Mal packte. Fester, sodass ich mich nicht so einfach aus dem Griff befreien konnte.

„Ich bin mir sicher, dass deine Mum das Klingeln gehört hat, falls sie Zuhause ist", sagte er beschwichtigend, womit er jedoch nur bewirkte, dass ich meinen Arm wieder losriss. „Und wenn sie nicht in der Lage ist, aufzumachen?"

„Dann bringt Sturmklingeln auch nichts", entgegnete Nate, wofür ich ihm am liebsten eine gescheuert hätte, doch als ich mich voller Wut zu ihm umdrehte, blieben mir die Worte im Hals stecken. Er musterte mich so eindringlich, dass ich nicht mehr wusste, was ich ihm hatte an den Kopf werfen wollen. Unwillkürlich bemerkte ich, wie mein rasender Atem sich von Atemzug zu Atemzug beruhigte. Es war, als hätten seine grün-braunen Augen eine beruhigende Wirkung auf mich, die mich für einen kostbaren Moment vergessen ließ, warum ich eigentlich vor meiner Haustür in Kansas City stand. Doch selbst die Ruhe, die Nate auszustrahlen schien, konnte nicht verhindern, dass ich mich schlagartig wieder daran erinnerte.

„Hey", sprach Nate abermals, als ich mich wieder komplett verkrampfte und das Gefühl bekam, jeden Moment zu ersticken. Seine Hand legte sich zum wiederholten Male um meinen Oberarm. Er drückte ihn leicht, was mich dazu bewegte, ihm wieder in die Augen zu sehen. „Habt ihr irgendwo einen Ersatzschlüssel?", fragte er ruhig und dennoch bestimmt, als wollte er sicher gehen, dass seine Worte auch wirklich bei mir ankamen. Tatsächlich brauchte ich eine geraume Zeit, um seine Frage zu verstehen, so sehr stand ich neben mir. Ein Auto fuhr an unserem Grundstück vorbei, in einem Nachbergarten war Kindergeschrei zu hören, ein Flugzeug flog über uns hinweg. Büsche rauschten im Wind, Vögel kreischten, Autos hupten, entfernt waren Sirenen zu hören. Es war viel zu laut.

Schließlich nickte ich. Erst langsam, dann immer hektischer. Wir hatten einen Ersatzschlüssel. Obwohl Mum immer so paranoid gewesen war, dass sie eigentlich gar keinen Schlüssel draußen verstecken wollte, aber sie hatte es meinetwegen getan. Weil ich immer dazu neigte, meine Schlüssel zu Hause zu vergessen. So wie heute auf der Farm irgendwo in meinem Zimmer, weil ich sie dort nicht brauchte.

„Wo denn?", hakte Nate nach, nachdem ich mich nicht von der Stelle rührte und das brauchte es, damit ich loslief. Binnen Sekunden hatte ich die hohe Holztür erreicht, die in einen ebenfalls hölzernen Zaun gefasst war, der den hinteren Bereich unseres Gartens vor neugierigen Blicken schützen sollte. Sie war abgeschlossen, wie immer, aber kein Hindernis für mich. Ich zog einen leeren Blumenkübel heran, kletterte herauf und setzte danach einen Fuß auf die Klinke.

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