4. Vers (Marvin)

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„Sechs Minuten", teilte Nora mit einem Blick auf ihre Armbanduhr meine Verspätung mit. Ihr Blick verharrte auf mir.

Allgemein verharrten alle Blicke auf mir, sogar das Sandmännchen war ganz schweigsam geworden.

„Was?", fragte ich scharf. Wie ich es genoss, endlich wieder ohne heisere Stimme und ohne wiederkehrende Hustenanfälle sprechen zu können.

„Es sind 12 Grad, Marvin", erklärte Herr Sandman langsam, so als ob ich das nicht wissen würde.

„Und?" Im nächsten Moment dämmerte mir allerdings, was er meinte. „Oh." Ich stand in kurzer Hose und T-Shirt vor der Klasse. Jacken waren im Februar ohnehin überbewertet. „Na ja, mir war eben warm."

Inzwischen war mir nicht mehr ganz so warm, aber ich bereute nichts. Stattdessen verzog ich mich unter leisem Gekicher an meinen Platz in der letzten Reihe und holte meine Materialien heraus.

Letzte Woche war ich auf einer Klassensprecherkonferenz gewesen (mit 13 Minuten Verspätung), daher nahm ich nun erst zum zweiten Mal in diesem Halbjahr an dem Tisch Platz.

Zuerst fiel mir nichts auf, aber dann fiel es mir auf. Das Gedicht, das ich vor zwei Wochen zu schreiben beschlossen hatte, schrieb sich von selbst.

Wohl nicht ganz von selbst, aber zumindest war die Person mit dem roten Stift auf die Idee gekommen, sie dürfe sich an meinem Gedicht beteiligen. Eigentlich war das ziemlich berechtigt, immerhin war ihr Satz der erste gewesen. Im Grunde war ich also derjenige, der auf die Idee gekommen war, sich an ihrem Gedicht beteiligen zu dürfen.

Ich war davon ausgegangen, dass die Kritzelei alt war, dass die Person mit der verschnörkelten Handschrift schon seit Ewigkeiten nicht mehr in diesem Raum unterrichtet wurde, doch ich hatte mich wohl getäuscht.

Es war exakt dieselbe Handschrift. Es war sogar derselbe Stift, mit dem der neue Satzteil geschrieben wurde, oder zumindest dieselbe Farbe.

Nun waren es also drei Verse. Wenn ich letzte Woche nicht da war und die Person mindestens eine Stunde die Woche in diesem Raum hatte, dann hatte sie in einer Stunde den dritten Vers geschrieben und mindestens ein weiteres Mal hier gesessen und nicht weitergeschrieben.

So als wartete sie auf mich.

„Marvin?", flüsterte Andi.

Ich fühlte mich ertappt, weil das Schulbuch noch immer verschlossen vor mir lag und ich es nicht wie die anderen aufgeschlagen hatte. Hastig blätterte ich darin. „Welche Seite?", fragte ich.

„70", antwortete mir statt Andi Leon in seinem gewohnt gleichgültigen Tonfall. Er drehte sich auch nicht zu mir um. Dafür nahm er Schule viel zu ernst und konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie wir Anderen während des Unterrichts unsere Privatgespräche führen konnten. Wobei das eigentlich nur auf Andi und Michael zutraf - ich war bloß das Opfer, das antworten musste.

„Ich wollte eigentlich was Anderes von dir", machte Andi unbeirrt weiter.

„Aha."

„Kann ich Mathe von dir abschreiben?"

Warum er das mich fragte, konnte ich mir denken. Leon verschwendete viel Zeit und Mühe darauf, seine Hausaufgaben sorgfältig zu erledigen. Daher war er nicht erpicht darauf, Faulenzer wie Andi bei sich abschreiben zu lassen.

Bei Michael konnte Andi auch nicht abschreiben, der legte nämlich noch weniger Wert auf Hausaufgaben als er selbst.

Nora war ebenfalls eine Niete in Mathe, hatte allerdings das Glück, mit Leon eine anscheinend so fabelhafte Beziehung zu führen, dass sie bei ihm im Unterricht die Lösungen immer noch mitschreiben konnte. Bei Frau Koch als Mathelehrerin klappte das mal mehr, mal weniger gut.

„Bin wohl deine letzte Hoffnung, was?"

„Ja. Ich kann die Hausaufgaben nicht schon wieder vergessen."

„Dann hättest du sie womöglich machen sollen."

„Marvin, wir sind doch Freunde..."

Ich reichte ihm mein Matheheft.

„Danke, du bist meine Rettung!"

Eigentlich war ich immer die Rettung. Für jeden meiner Freunde. Wenn einer mal in irgendeinem Fach nicht klar kam - bei mir konnten sie abschreiben. Anfangs hatten sie mir noch versichert, sie würden mich auch mal von sich abschreiben lassen, aber schließlich hatte sich erwiesen, dass ich von sowas nicht Gebrauch machen musste. Meine Hausaufgaben erledigte ich immer. Hatte meistens eh nichts Besseres zu tun und die Aufträge waren auch nicht sonderlich schwierig. Zumindest nicht für mich.

„Er ist deine Rettung in Badehose und T-Shirt", konkretisierte Michael.

„Das ist keine Badehose", widersprach ich.

Michael zuckte mit den Achseln. „Schade, dann eben nicht. Kann ich trotzdem auch von dir abschreiben?"

„Tu dir keinen Zwang an."

„Ich versteh nichts, wenn ihr euch permanent unterhaltet", zischte Leon genervt.

Von unseren Unterhaltungen bekam Nora im Gegensatz zu Leon meist nicht viel mit, denn Stift und Papier waren ihre stetigen Begleiter. Sie zeichnete andauernd und sie zeichnete gut. Es war nicht so, dass das Sandmännchen das nicht mitbekam, doch es ließ es ihr durchgehen, weil Nora meinte, sich dadurch besser auf seine Worte konzentrieren zu können. Sie meinte es ernst. Und mit dem apfelrot gefärbten Haar sah sie auch irgendwie aus wie eine Künstlerin, der man nicht das Zeichnen verbieten konnte.

Andi und Micheal jedoch ließ Herr Sandman das Geschwätz nur deswegen durchgehen, weil er wusste, dass Leon es nicht tat. Äußerst praktisch, denn so musste er sich nicht selbst unbeliebt machen.

Es vergingen noch ein paar Minuten, in denen ich meine Konzentration an den Unterricht heftete und mich brav beteiligte, sogar den einen oder anderen Beitrag lieferte, dann aber besann ich mich auf das Gedicht beziehungsweise die drei einsamen Verse.

Der Person, der Handschrift zu urteilen vermutlich ein Mädchen, war es tatsächlich gelungen, meine Sauklaue zu entziffern, denn ihr letzter Vers reimte sich auf meinen ersten Vers. Also würde ich meinen nächsten Vers auf ihren ersten reimen und dann hatten wir eine Strophe und das Reimschema a b b a.

Ich hatte noch nie ein richtiges Gedicht geschrieben und schon gar nicht gemeinsam mit einer mir fremden Person und das dann auch noch lediglich auf einen Schultisch geschmiert, auf den andere schon sehr viel Sinnloseres geschmiert hatten.

Ob mir die Rolle des Hobby-Poeten stand, wagte ich zu bezweifeln, doch ein bisschen Reimen konnte sicher nicht schaden.

Ich nahm einen Stift, der hoffentlich nicht so fatal verschmieren würde wie die Tinte von Leons Füller und schrieb mit einem schwarzen CD-Marker, um etwas mehr Leserlichkeit bemüht, Folgendes:

die immerzu um Hilfe schreit.

Denn die Einsamkeit schrie. Sie schrie nach jemandem, der sie vertreiben würde.

Ich wollte nicht selbst unter Freunden einsam sein.

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt