8. Vers (Marvin)

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Als ich an diesem Tag an den Biologieraum klopfte (glücklicherweise mit genügend Kaffee und Schlaf), hatte ich eine stattliche Verspätung im Gepäck, wahrscheinlich sogar mehr als zwanzig Minuten, aber dennoch kein Vergleich zu vorletzter Woche, wo ich die ersten beiden Stunden fast komplett verpasst hatte, nur um mich dann vom Sandmännchen wieder geradewegs nach Hause schicken zu lassen.

Ich hatte das ungute Gefühl, dass allerdings auch zwanzig Minuten Verspätung zu einem weiteren Gespräch mit ihm führen würden. Jenem Gespräch war ich die letzten zwei Wochen erfolgreich aus dem Weg gegangen, indem ich immer mit weniger als zehn Minuten Verspätung erschienen war. Diese gute Gewohnheit war hiermit aber auch wieder hinüber und ich wusste nicht, ob Herr Sandman mir das heute durchgehen lassen würde.

Er ließ es mir durchgehen.

Denn als er mir die Tür öffnete, hellte sich seine Miene auf. „Wenigstens einer!", sagte er und ich verstand nicht recht, was er meinte.

Ich verstand es erst, als Nora mir nicht meine Verspätung nannte.

Nora fehlte. Allgemein fehlten sie alle. Andi, Michael - sogar Leon!

„Wo sind die?", fragte ich verblüfft. Gruppenfehlen hatten meine Leute auch noch nicht gebracht.

„Ja - ja, das wüsste ich auch gerne", meinte Herr Sandman. Es schien ihn sichtlich zu stören, dass man offensichtlich seinen Unterricht schwänzte. So sehr, dass er über meine Verspätung bereitwillig hinwegsah. Glück gehabt.

Ich setzte mich an meinen Platz, holte meine Unterlagen heraus und ebenfalls mein Smartphone, das ich so hinter meinem Mäppchen platzierte, dass man es aus Lehrerposition nicht sehen konnte.

Ich ging auf WhatsApp, während Herr Sandman in seinem Unterricht fortfuhr, beteiligte mich sogar prompt bei der ersten Frage, die er stellte. Eigentlich nicht, um meine Note zu verbessern oder zu halten, sondern eher zur Entschädigung für meine Verspätung und für das Fehlen der gesamten Tischreihe vor mir.

Dann öffnete ich den Gruppenchat mit Leon, Nora, Andi und Michael.

Ich hatte ein paar verpasste Nachrichten in besagtem Chat.

Leon: Kann mir einer von euch die Arbeitsblätter mitnehmen, die ihr heute bekommt?

Nora: Bitte sag nicht, dass du auch krank bist.

Leon: Dann war's ja gut, dass ich gleich in die Gruppe geschrieben habe. Andi? Michael?

Warum fragte eigentlich nie jemand, ob ich ihm Unterrichtsmaterialien mitnehmen konnte? Na gut, vermutlich weil meine Pünktlichkeit zu wünschen übrig ließ. Genau wie mein Immunsystem. Ja, ich war vielleicht wirklich nicht der richtige Ansprechpartner für sowas.

Michael: Sry, brauchte Wochenende, da hab ich es heute begonnen.

Leon: Ernsthaft? Musste das sein?

Andi: ...

Andi: Dann...

Andi: ...sind wir also alle nicht da??? :D

Michael: Saubere Leistung, Kumpel! :D

Leon: Das darf nicht wahr sein...

Nora: Euch ist schon klar, dass das leicht auffällig sein wird?

Andi: Halb so wild, wir fehlen ja alle :D

Leon: ...

Andi und Michael spammten noch mit „:D"s, als ich die Nachrichten bereits zu Ende gelesen hatte.

Ich klinkte mich in das Gespräch ein.

Ich: Ihr seid so unendlich dumm.

Michael: Guten Morgen, Marvin! :D

Leon: Ich nehme an, du bist gerade erst aufgestanden?

Nora: Sei nicht so gemein, Schatz!

Andi: Oh oh, die Ehe geht jetzt in die Brüche, oder? :D

Michael: Glaub schon :D

Leon: Ihr seid solche Idioten...

Warum gab ich mich eigentlich mit diesen komischen Menschen ab? Bis auf Leon natürlich. Leon sprach mir aus der Seele.

Ich: Und was ihr für welche seid. Das Sandmännchen ist euretwegen gekränkt.

Leon: Du bist im Unterricht?

Ich: Hättest du nicht gedacht, ich weiß.

Leon: Danke, Gott, er ist im Unterricht!

Ich: Ich dachte, du bist Atheist?

Leon: Hdf, Winter

Andi: Hast du das gesehen, Michael? Leon kann Halt die Fresse wirklich abkürzen :D

Michael: Ich weiß :D

Leon: -.-

Michael: Und jetzt hat er einen Smiley gemacht :D

Andi: Seine Fortschritte sind unfassbar :D

Eine Information von Herr Sandman ließ mich in die Gegenwart zurückkehren: „Ich habe vier Arbeitsblätter für euch, die ihr heute und über die Ferien bearbeiten werdet."

Warum...? Warum nur?

„Dann brauch ich wohl zwanzig", stöhnte ich laut genug, dass alle es hören konnten und zu lachen begannen.

Man reichte mir meine zwanzig Arbeitsblätter. Das Sandmännchen sah mich höchst amüsiert an und auch mein Gesichtsausdruck verriet, dass ich nicht so richtig genervt war.

Als mir keine Aufmerksamkeit mehr galt, was einen Moment dauerte, sah ich wieder auf mein Handy und tippte: Ich habe euch soeben zusammengezählt sechzehn Arbeitsblätter mitgenommen. Ihr könnt euch später bei meinem Rücken entschuldigen.

Andi schrieb: Opfer :D

Michael schrieb: Opfer :D

Leon aber schrieb: Danke, ehrlich man

Ich ging offline (eine Idee, auf die Nora anscheinend schon lange vor mir gekommen war - kluge Nora) und ließ mein Handy unauffällig wieder in der Hosentasche verschwinden.

Ich mochte die vier, auch wenn keiner von ihnen mir die Einsamkeit so recht abnehmen konnte. Unserer Clique fehlte ein Mitglied. Eine gerade Zahl wäre wirklich sinnvoller. Allerdings müsste dieses Mitglied sich mit mir am besten verstehen und dann noch wunderbar mit den anderen harmonieren. So jemanden zu finden, das war fast unmöglich. Man musste ja nur bedenken, dass neue Klassenkameraden nicht vom Himmel fielen. Da schwand die Chance, einen möglichen Kandidaten zu finden, praktisch auf Null.

Und so würde mir die Einsamkeit wohl auch weiterhin nicht erspart bleiben.

Moment mal.

Ich räumte die zwanzig Arbeitsblätter zur Seite und sah auf den Tisch.

Letzten Freitag war da keine Antwort gewesen, doch heute schon. Es freute mich. Kurz hatte ich wirklich geglaubt, das Gedicht hätte sich erledigt.

Lichtblicke sind nicht von Dauer,

bessere Zeiten kommen nicht,

die Einsamkeit sticht

Ich verlieh der Strophe nun ihren letzten Schliff, ihren letzten Vers.

und ich werde sauer.

Langsam wurde ich wirklich sauer, weil ich die vier Leute, die sich Freunde nannten, nicht Freunde nannte, es einfach nicht länger konnte. Ich wurde sauer, weil ich die Einsamkeit nicht hinnehmen wollte, sie aber hinnehmen musste, weil sie nicht vergehen wollte.

Aber eines Tages...

Eines Tages würde ich mit dem Messer hinter ihr stehen, es ihr in den Rücken stoßen, wenn sie nicht damit rechnete, wenn nicht einmal ich selbst damit rechnete.

Und an diesem Tag würde ich die Einsamkeit, die sich nicht umbringen ließ, trotzdem umbringen.    

Die Verse der EinsamkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt