27. Bahnhof

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»Komm schon, Stegi. Ich komme so bald wie möglich wieder, versprochen.«

Ich nickte traurig und wollte mein Gesicht am liebsten in Tims Schulter vergraben, doch ich wusste, dass es mir dann nur noch schwerer fallen würde, ihn los zu lassen.

»Ach mann, mach es mir doch nicht so schwer! Ich will doch auch nicht gehen!«, jammerte Tim weiter und zog mich in seine Arme. Wir standen am Bahnhof an Tims Gleis, was bedeutete, dass unsere gemeinsame Zeit Mal wieder vorbei war. Ich wollte alles, doch nicht meinen besten Freund gehen lassen. Am liebsten hätte ich ihn für immer da behalten oder wäre mit ihm gefahren. Aber das ging nicht und deswegen konnte ich schon fast einzelne Tränen nicht mehr zurückhalten.

Ich war gegen all meine Bemühungen am Vorabend irgendwann in Tims Armen eingeschlafen, nachdem... ja, nachdem ich ihn geküsst hatte. Jetzt, am Morgen, nüchtern betrachtet konnte ich beim besten Willen nicht nachvollziehen, was mich dazu getrieben hatte, aber gestern Abend hatte es sich so richtig angefühlt, so gut. Heute morgen war ich wieder in meinem Zimmer aufgewacht, Tim musste mich noch irgendwann in der Nacht in mein Bett getragen haben. Ich hatte lange mit meiner Verwirrung kämpfen müssen, in meinem Inneren schrie alles nach einer Antwort auf die Frage, warum ich das überhaupt gemacht hatte. Da Tim anscheinend beschlossen hatte, es totzuschweigen, hatte ich es irgendwann nicht mehr ausgehalten und mich entschuldigt, ihm versichert, dass ich nicht wüsste, was in mich gefahren war. Doch was Tim dann geantwortet hatte, hatte mich nur noch mehr verwirrt. Er hatte mir sofort versichert, dass ich mich nicht entschuldigen müsse und alles in bester Ordnung sei, dass er es nur nicht angesprochen habe, weil er gedacht hatte, dass ich nicht darüber reden wollte. Was ja eigentlich auch stimmte. Aber auch nicht. Ich war heillos verwirrt, wusste gar nichts mehr, kam mit mir selbst nicht mehr klar. Tim hatte mich wieder einmal in die Arme genommen und an sich gezogen, mir irgendwann gesagt, ich solle einfach in Ruhe nachdenken, mir klarwerden, was der Kuss für mich bedeutet hatte und wenn ich mir sicher wäre, dann wäre er für mich da. Die restlichen Stunden hatte keiner von uns das Thema mehr angesprochen, alles hatte wie immer gewirkt aber dennoch war es das nicht gewesen. Die Stimmung war trotz allem gespannt gewesen und nicht so locker wie sonst immer.

Und jetzt, drei Stunden später, standen wir hier am Bahnhof vor Tims Zug, der in vier Minuten losfahren würde und ich konnte und wollte mich nicht schon wieder von meinem einzigen Freund verabschieden. Auf einmal war es mir egal, dass wir mitten auf einem öffentlichen Platz waren, mir war es egal, dass uns wahrscheinlich jeder anstarrte und meine Mutter nur zwei Meter hinter uns stand und uns höchstwahrscheinlich auch beobachtete. Mir war alles egal, ich streckte mich zu dem viel Größeren hoch, stellte mich auf die Zehenspitzen und merkte, wie Tim mit seinem Kopf mir entgegen kam, bis meine Lippen sanft seine weiche Haut streifen konnten. Ich drückte ihm einen zarten Kuss auf die Wangen, nur ein paar Zentimeter von seinem Mund entfernt. Ich hatte schlecht einschätzen können, wo ich ihn berühren würde, konnte nur raten, wie seine Gesichtszüge lagen und genauso gut hätte ich seinen Mund treffen können und es wäre mir recht gewesen. Alles was mich gerade interessierte, war, dass Tim nicht gehen durfte und dass er wusste, dass ich ihn unglaublich würde vermissen werden. Meinen einzigen Freund.

»Steeegiii«, jammerte Tim schon wieder und erschrocken quietschte ich auf, als ich Tims Hände an meinen Hüften spürte, die mich ein Stück in die Luft hoben. Überrascht schlang ich meine Arme um seine Schultern, die nun ein Stück unter den meinen lagen.

»Tiiiiim«, quengelte ich, was ihn nur wieder zum Lachen brachte. Ich konnte nicht anders, als mit einzustimmen, auch wenn es meine Trauer immer noch nicht ganz vertrieb.

»Wann kommst du wieder?«, fragte ich leise.

»Ach, Stegilein... So bald ich kann. Spätestens nächstes Wochenende.«

»Nächstes Wochenende? Tiiiiimi! Das ist noch so weit hin!«, beschwerte ich mich entsetzt und schniefte.

»Ich weiß kleiner, ich weiß.«, murmelte er und drückte mich noch fester an sich, bevor er mich wieder auf dem Boden absetzte.

»Ich muss jetzt wirklich los. Mein Zug fährt jeden Moment ab. Es tut mir leid. Ich ruf dich an, sobald ich Zuhause bin, versprochen«, versicherte er mir und strich mir sanft die Haare aus der Stirn. Ich nickte wieder traurig. Ich wusste, wie kindisch ich mich aufführte und wie unfair von mir es war, Tim so ein schlechtes Gewissen zu machen, deswegen setzte ich noch einmal in vernünftigem Tonfall zu sprechen an:

»Danke, Tim. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde. Komm gut heim«, wünschte ich ihm und atmete mehrere Male tief durch, um den Knoten, der sich immer enger um meine Brust zog, zu lösen, jedoch vergeblich. Tim löste sich widerwillig von mir und verabschiedete sich von meiner Mutter, bevor er mir einen letzten Kuss auf den Scheitel hauchte und ich seine Schritte weggehen hörte.

Jetzt stieg er wohl gerade in den Zug ein.

Jetzt ging er durch die Gänge auf der Suche nach einem freiem Platz.

Jetzt würde er wahrscheinlich inzwischen einen gefunden haben.

Jetzt verstaute er wohl gerade sein Gepäck.

Jetzt schlossen sich die Türen und der Zug fuhr ab, brachte Tim von mir weg.

Und jetzt, jetzt sah er vielleicht gerade aus dem Fenster, betrachtete seine Umgebung und vielleicht, ganz vielleicht dachte er gerade an mich.

Dachte an den kleinen, blonden, seiner Meinung nach viel zu mageren Jungen, den er auf dem Bahnsteig hatte zurücklassen müssen und der nun immer noch regungslos dastand. Hätte er noch sehen können, hätte er wahrscheinlich dem längst in der Ferne verschwundenen Zug hinterher geblickt, vielleicht hätte er bei der Abfahrt gewunken oder einen letzten Blick auf seinen besten Freund erhascht, der ihn nun wieder verlassen müsste. Vielleicht wäre ihm dann diese Leere, die ihn nun befiel nicht so schwer vorgekommen und vielleicht hätte er dann die Tränen zurückhalten können, die nun ungehindert aus seinen Augen rannen. Vielleicht wäre all das anders, wenn er hätte sehen können, wenn er nicht blind gewesen wäre. Aber wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich, wäre dann nie alles so gekommen, wie es gekommen war. Die beiden besten Freunde hätten sich nie, oder zumindest noch für lange, lange Zeit, nie getroffen, hätten sich nie so gut kennengelernt und nie hätte der Kleinere den Größeren am Vorabend geküsst. Es wäre nie so ein Wirbelsturm der Gefühle in ihm getobt und hätte ihn so durcheinander gebracht, ihn so verwirrt. All das wäre wohl anders gewesen und das war der Grund, warum der kleine, zurückgelassene Junge am Bahnsteig nicht um seine verlorenen Augen trauerte, sondern nur um den Freund, der ihn heute erneut zurückgelassen hatte.

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Hayho meine Lieben!

Soooo, heute einmal ein etwas ruhigeres Kapitel. Am Ende habe ich einen Schreibstil verwendet, den ich persönlich sehr mag, es hilft mir einfach, all die Gefühle in Worte zu fassen, die ich habe und mir vorstelle. Was haltet ihr davon?

Dann möchte ich mich ganz herzlich bei allen bedanken, die so fleißig das letzte Kapitel kommentiert haben, sowohl auf Wattpad als auch auf Fanfiktion.de kamen unglaublich viele Reviews und haben mich zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht!

Außerdem wollte ich ein meeeega DANKE sagen für die 100 Favoriteneinträge, die meine Geschichte heute auf Fanfiktion.de erreicht hat und die 400 Sternchen auf Wattpad! Das ist unglaublich! Ich will euch dafür (und für die nach diesem Kapitel voraussichtlich 6000 Aufrufe auf Fanfiktion.de, beziehungsweise 2,7k Aufrufe auf Wattpad) ein Special zaubern, wenn ihr Ideen oder Wünsche habt, immer in die Kommentare damit. Wenn keine Vorschläge kommen, gibts wahrscheinlich auch kein Special, also denkt euch etwas aus, wenn ihr ein Special lesen wollt ;)

Liebe Grüße, minnicat3

Blindes Vertrauen ~ #StexpertDonde viven las historias. Descúbrelo ahora