Medizin

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Eine lange Minute saß ich einfach nur da und ließ meine neue Umgebung auf mich wirken. Ich musste zittern, denn es war kalt und zugig hier unten. Meine Gedanken wanderten zu Liam.

Liam.... was der wohl gerade machte? Da schoss es mir durch den Kopf: Ich war hier unten, damit er leben konnte. Was sollte ich denn hier eigentlich tun? Als Antwort flatterte ein Zettel aus einer mit Schlamm und Sand verklebten Ritze in der Mauer um mich herum. Vorsichtig nahm ich ihn auf. Er war glitschig und nass, aber noch ganz weiß, also konnte er noch nicht lange dort liegen. Meine Augen richteten sich auf die geschwungenen Schriftzüge.

Jetzt liegt es an dir. Finde dass, was ihn gesund macht, indem du den Pfeilen folgst. Viel Vergnügen!

Das Ganze war einfach nur absurd. Das hörte sich fast wie eine Schnitzeljagd an! Ich lachte bitter. Mein Lachen hallte schaurig von den Wänden zurück. Unwillkürlich duckte ich mich zitternd zusammen. Es war ganz still, nur Wasser tropfte plätschernd die Steinwand hinunter. Wenn ich jetzt nicht alleine wäre...

Ich war aber alleine. Und ich tat es für Liam. Ich biss die Zähne zusammen, stand auf und ging auf den Gang zu.

Das Echo meiner Schritte hörte sich an, als würde mir jemand folgen. Der Gang war finster und ein ekliger Geruch strömte aus ihm, nach Schlamm und verotteten Tieren. Langsam schritt ich an Steinen, Pfützen und schleimigen Pflanzen vorbei, immer auf der Suche nach den roten Pfeilen. Nach einer Zeit war ich bei dem 6. Pfeil angekommen, und noch immer hatte sich meine Umgebung nicht verändert. Ich begann ungeduldig zu werden. Soll ich hier irgendwas suchen? Oder macht es denen einfach nur Spaß, dass ich mich hier unten zu Tode fürchte? Ich hasste meine Entführer. Meine Füße waren nass und kalt, meine Hände fühlten sich an wie zwei Eisklumpen. Plötzlich entdeckte ich einen schwachen Lichtschimmer. Erleichtert atmete ich auf. Endlich!

Das Licht wurde immer heller. Als meine Augen sich daran gewöhnt hatten, sah ich endlich den Ausgang des Kanals. Meine Schritte wurden immer schneller. Unter meinen Füßen quietschte der Schlamm und Wassertropfen tropften in meinen Nacken. Mit einemmal stand ich mitten in einer riesigen Höhle. Wow!

Sie war einfach nur riesig. Ich fühlte mich unendlich klein. Mein Blick wanderte von einer Seite zur anderen. Wasser und Dreck platschten auf meinen Kopf und ich bekam eine Gänsehaut. Rasch sprang ich zur Seite und dann fing ich an zu schreien:

Ich stand genau an einer Klippe, die über einen schwarzen Tümpel ragte.

Mein Schrei hallte lange von der Höhlendecke wieder. Ich war geschockt. Denn unten auf einem Stein mitten im schwarzen Wasser des Tümpels lag eine Flasche, auf deren Etikette, das mit Schmutz und Schlamm beschmiert war, zu lesen war:

Zur Anwendung gegen Atembeschwerden und starken Reizhusten

Ich war geschockt. Was? Sollte ich da jetzt etwa herunterspringen? Etwas knackste hinter mir, und ich blieb starr vor Angst stehen. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen. Mein ganzer Körper war angespannt. Ich dachte, ich würde sterben vor Angst. Es kam mir alles so sinnlos vor, so unwirklich. Wenn ich hier doch nicht alleine wäre! dachte ich mir wieder. Aber ich wusste, dass ich jetzt und hier nur einen brauchte: nicht meine Mutter und auch nicht meine beste Freundin; ich wollte, dass Liam hier neben mir saß. Ich wollte, dass er mich in den Arm nahm und mich tröstete, mich beschützte. Mein Bauch zog sich zusammen, als ich an ihn dachte, und ich fing leise an zu weinen. Liam! Liam, wo bist du? Ich brauche dich! Bitte...

Als meine Augen trocken waren und ich alles aus mir herausgeheult hatte, drehte ich mich langsam um. Doch statt einem Ungeheuer oder eimen Mann mit schwarzem Mantel oder was auch immer ich befürchtet hatte, lag nur ein Zettel hinter mir. Zitternd griff ich nach ihm.

Wie wir sehen, bist du endlich am Ziel! Noch lebt ER noch, aber du musst dich beeilen! Worauf wartest du also? Hol die Flasche und komm zurück zum Eingang. Aber pass auch auf dein Leben auf!

Wut stieg in mir auf. Ich wollte jetzt nur noch Liam, und um zu ihm zu kommen, musste ich die Medizin holen. Ich überlegte nich lange. Schnell riss ich mir alle Kleider, die ich anhatte vom Körper; meine Hose, meinen Pulli und das schwarze Top, mein Lieblingstop, das jetzt voller Dreckklumpen und stinkendem Wasser war. Ich band alles zusammen, so fest ich konnte und befestigte dann mein "Seil" an einem glitschigen Felsbrocken, sodass es bis an die Oberfläche des Tümpels reichte. Fertig.

Nur in Unterwäsche und zitternd vor Kälte trat ich an den Klippenrand. Meine nackten Zehen rutschten auf dem schleimigen Boden fast aus. Ich schluckte einmal, atmete tief ein und dann sprang ich von der Klippe. Vor meinen Augen sah ich Liam, und ich konnte fast schon seine warmen Arme um mich spüren, als ich in das schwarze Wasser des Tümpels eintauchte.

EntführtWhere stories live. Discover now