Teil 1 der Leseprobe

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Prüfend sah ich mich im heruntergekommenen Flur der Sporthalle um, doch außer uns war keine Menschenseele weit und breit zu entdecken.

„Jetzt mach schon, Jassy!", hörte ich Andy hinter mir zischen.

Augen verdrehend schob ich mich durch die Tür der Mädchenumkleide. Jedes Mal nervte er mich mit seinen nervösen Kommentaren. Als ob es mich irgendwie interessieren würde, ob mich ein Lehrer erwischte oder nicht. Am Ende würden sie sowieso wissen, dass ich es war.

Und wieder eine dumme Aktion. Du kannst es auch einfach nicht lassen, Jassy, meldete sich meine innere Stimme mal wieder zu Wort. Ich ignorierte sie und beeilte mich, zum Bad der Umkleide zu gelangen. Als ich dort war, vergewisserte ich mich nochmal, ob auch wirklich niemand hier war.

Mit schnellen Schritten ging ich zielstrebig auf die Waschbecken, die unter den angelaufenen Spiegeln in einer Reihe an der Wand hingen, zu und versuchte geflissentlich, mein Spiegelbild zu ignorieren. Ich wollte das Mädchen nicht sehen. Wollte seine großen braungrünen Augen nicht sehen, seine langen dunkelbraunen Haare. Oder die Art, wie es gerade seinen Mund zusammenkniff.

All das würde mir das Herz zerreißen. Ich sah zu sehr aus wie sie.

„Jassy!", riss mich Andys nervöse Stimme von draußen aus meinen Gedanken.

„Bin dabei, chill, Andrew", flüsterte ich zurück. Schnell drehte ich alle Wasserhähne bis zum Anschlag auf und kramte einen klebrigen Lippenstift aus meiner Hosentasche.

FUCK YOU DEMMY!, schrieb ich in Großbuchstaben quer über den mittleren Spiegel.

Zufrieden nahm ich mir ein paar Sekunden, um mein Werk zu betrachten, und konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Fröhlich sprudelten die Wasserhähne vor sich hin und hatten die Waschbecken schon zur Hälfte gefüllt. Das würde eine hübsche Überschwemmung geben, die man erst entdecken würde, wenn es schon zu spät war.

Bevor ich nasse Füße kriegen konnte, machte ich kehrt. Als ich die Umkleide verlassen hatte und auf dem Gang erschien, wo Andy auf mich wartete, schnaufte er unwillkürlich erleichtert.

„Na, Gott sei Dank, ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr heraus!"

Mein Grinsen wurde nun zu einem süffisanten Lächeln, ich stupste ihn mit dem Ellbogen freundschaftlich in die Rippen und ging betont lässig in Richtung Ausgang.

Andy und ich kannten uns seit der fünften Klasse und hatten uns schon immer sehr gut verstanden. Jetzt in der zwölften war das Verhältnis immer noch so, und darüber war ich froh. Andy hatte ich auch meinen englischen Spitznamen zu verdanken, den er mir verpasst hatte, nachdem er seine Sommerferien immer bei seiner Oma in England verbracht hatte. Ich mochte Jassy. Jasmin nannte mich nur noch mein Vater, und eigentlich auch immer nur dann, wenn ich etwas verbrochen hatte oder er sauer war.

Was momentan eigentlich... immer war.

Andy seufzte leicht neben mir. Ihn hatten die letzten paar Minuten mal wieder ziemlich mitgenommen. Er war ein braver Typ, weswegen er jedes Mal fast starb, wenn ich wieder irgendeine Aktion brachte und er für mich Schmieren stehen musste.

Zu Recht. Bei dir kriegt jeder einen Herzkasper, knurrte meine innere Stimme.

Ach, halt doch die Klappe, gab ich zurück und stieß die Turnhallentür auf.

Jetzt musste ich erstmal in die Hölle namens Unterricht zurück.

Als es in der Mathestunde an der Tür klopfte, wachte ich aus meinem Tagtraum auf und sah neugierig wie alle anderen zur Tür. Als sie sich öffnete, kam unsere Rektorin Demmenhof herein. Nach ihrer kurzen Begrüßung fiel ihr strenger Blick sofort auf mich und ich wusste, was mir blühte. Jeder hier im Raum wusste, was mir blühte, denn schließlich war es schon zum wöchentlichen Ritual geworden, dass sie mich aus dem Unterricht holte, nachdem ich wieder irgendeinen absoluten Blödsinn veranstaltet hatte.

Riptide [LESEPROBE]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt