Prolog

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P.O.V.: Olivia Ortega

*

4 Jahre zuvor...

"Du Miststück solltest meinen Aufsatz zu heute fertig stellen! Sonst darf ich nachsitzen. Das weißt du ganz genau!", schreit mich Harry mit einer solchen Aggressivität an, wie nur er es zustande bringen kann.

Wir stehen mitten auf dem Schulhof und er hält mich an der Jacke fest, damit ich nicht flüchten kann, während seine Clique und weitere Schaulustige das Geschehen mit verfolgt. Alles bleibt still, das einzige was man ab und zu hören kann, ist das leise tuscheln von Mitschülern und das rascheln der Blätter im frühen Herbstwind.

"Hey, ich rede mit dir!", herrscht er mich weiter an.

Ich bleibe jedoch stumm und beobachte den Stoff meiner Jacke, die jeden Moment unter Harry's starken Griff zu reißen droht. Bitte nicht schon wieder, denke ich verzweifelt. Das wäre dann die fünfte Jacke, die er zerstört. Dad würde mir keine neue kaufen. Und so langsam gehen mir auch die Ausreden für zerissene Klamotten aus. Ich kann schließlich nicht jeden Tag in der Schule hinfallen oder irgendwo hängen bleiben, sodass sich meine Kleidung in ihre Bestandteile auflöst.

"Es tut mir leid, aber ich konnte nicht. Ich... meine Mum-"

"Ach, deine liebe Mama! Genau! Wie lange ist es jetzt her? Drei Jahre?", unterbricht er mich mit einem schadenfrohen Lächeln.

Sein Vater war der Bestatter und außerdem ein guter Freund meiner Mum gewesen. Und natürlich bekam Harry den Tod meiner Mutter auch mit und verbreitete es am nächsten Tag gleich in der Schule, aber nicht ohne mir dabei zu schaden. Sie war eines abends auf dem Heimweg und der Nebel hing dicht und tief auf den Straßen. Jedenfalls driftete sie auf die Gegenfahrbahn und stieß dort mit einem LKW zusammen, dabei überschlug sich das Auto stürzte den Hang hinunter, wo es schließlich in einem See landete und versank. Jede Hilfe kam zu spät.

Harry aber hielt es für nötig allen zu erzählen, dass sie es einfach nicht mehr mit mir aushielt, weswegen sie sich mit Absicht in den See stürzte. Nur um mich endlich los zu sein, denn dieser Fehler, der ich war, ließ sich nicht mehr rückgängig machen.

Ich wusste natürlich, dass Harry das nur sagte, um mich zu verletzen . Aber mit der Zeit fing ich wirklich an mich zu fragen, ob da was dran war. Dass sie mich einfach nicht mehr ertragen konnte.

"Ja, drei Jahre. Du musst das verstehen. Es war ihr Todestag", murmel ich unter Tränen.

"Will das kleine hässliche Mädchen etwa wieder weinen? Deine Mutter hat sich doch nur umgebracht, weil du eine zu große Enttäuschung für sie warst... Aber weißt du was, du hast nicht nur sie, sondern auch mich wieder enttäuscht."

"Bitte verstehe doch Harry. Ich konnte einfach nicht", wimmere ich leise, während meine Stimme am Ende bricht.

Ich weiß, was als nächstes kommt. Und ich hatte mir geschworen, dass es nie wieder so sein wird. Ich hatte auch mich enttäuscht... schon wieder. Bitte nicht. Harry zerrt mich zu den Mülltonnen hinter denen er mich in die Ecke schubst. Nur seine Clique folgt uns. Sie sind alle ein Jahr älter. Nur leider trotzdem im selben Jahrgang wie ich.

Früher hätte ich nicht alles einfach über mich ergehen lassen. Aber Mums Tod und Harry plus seine Gefolgschaft veränderten mich. Mit 10 Jahren war ich noch das kleine Mädchen mit der viel zu großen Ahornbrille auf der Nase und den kindlichen Pausbacken. Ich sah gesund aus und fühlte mich auch so, war immer glücklich und lebensfroh. Aber jetzt mit 13 Jahren bin ich zwar immernoch Brillenträgerin, aber auch abgemagert. Ich esse kaum, trinke nicht viel. Freunde habe ich auch nicht wirklich. Alles was mich noch halbwegs am Leben hält, ist die Schule. Nicht die Schule an sich. Nur das Lernen. Ich kann mich problemlos hinter meinen Büchern verstecken. Es gibt mir das Gefühl etwas Vernünftiges mit der Zeit anzufangen, die ich schon lange nicht mehr haben möchte. Ich fühle mich meiner Zukunft sicher. Sicher, dass sich etwas ändern wird, dass es besser wird.

"Jetzt kommt der Teil, vor dem wir uns alle so fürchten. Nicht nur du. Aber du lernst es einfach nicht anders", spottet Harry, während sein Kumpel -Todd heißt er glaube ich- die Kamera bereit hält.

"Kamera läuft", gibt Todd ihm das Zeichen.

Sofort wandern Harrys Hände an den Saum meines T- Shirts und reißen es kaputt, sodass mein nackter Bauch mit noch nicht abgeheilten Blutergüssen und blauen Flecken frei liegt. Es dauert nicht lange und ich liege nur in Unterwäsche vor ihnen.

"Bah. Guck mal ihre Beckenknochen! Wie ekelig dünn die ist!", höre ich Harrys Freundin rufen.

Sekunden später werde ich getreten, geschlagen und gekniffen. Natürlich nur dahin, wo man es später, wenn ich meine Kleidung wieder trug nicht sieht. Ich kenne es nicht anders. Aber es war nicht immer so. Es fing in der 5. Klasse an. Und selbst jetzt in der 8, ist es nicht besser, sondern schlimmer geworden. Harry zog mir damals beispielsweise nur an den Haaren oder stellte mir Beinchen, aber ich hätte nie gedacht, dass er jemals so weit gehen würde, wie jetzt.

Mit der Zeit zog ich mich immer mehr zurück und auch mein Kleidungsstil litt darunter, was mir aber herzlich egal war. Früher, als Kind war ich noch farbenfroh und ausgefallen, heute hingegen mumme ich mich lieber in zu große Jeans und dunkle Pullover ein.

"Hört bitte auf", stöhne ich vor Schmerz.

"Sie hat noch nicht genug. Bettelt um Schläge!", lacht ein anderer.

Was habe ich ihnen getan, dass sie so zu mir sind? Das frage ich mich nicht zum ersten Mal. Ich warte bis sie aufhörten, aber es endet einfach nicht. Mein Körper ist schwach, sehnt sich nach Erlösung. Mama, hol mich zu dir, ich will nicht mehr, denke ich und meine Lider flattern ein letztes Mal. Ich schließe die Augen. Bin ich tot?

Nein nur bewusstlos. Aber eins steht fest. Ich muss hier weg. Brauche einen Neustart. Sonst werde ich mich immer mehr und mehr verlieren.

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