1. Kapitel

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Früher stieg ich gerne in die S-Bahn, um vor meinen Gedanken zu fliehen. Wenn sie in meinem Kopf kreisten, tat ich es ihnen nach und fuhr mit der S-Bahn im Kreis. Ohne Ticket, ganz alleine. Und ich genoss es, aus dem Fenster zu sehen und all dem Leben draußen zuzusehen. Kleine Kinder, die umher tobten, Mütter, die redeten und gleichzeitig versuchten, ihre Kinder wieder in den Kinderwagen zu setzen, Handwerker bei der Arbeit und jegliche Details wie Schmetterlinge oder Amseln. All das geschah vor meinen Augen, jedoch isoliert von der Fensterscheibe, hinter der ich saß.

Dieses Gefühl, die Realität und das Leben zwar zu sehen, aber nicht zu spüren, habe ich seit etwa einem Jahr.
Die Diagnose kam überraschend, obwohl überraschend natürlich relativ ist, denn wer rechnet mit Leukämie?
Ich las viele Bücher über Krebs und schaute doppelt so viele Filme, und viele fragten mich, warum. Wisst ihr, ein normaler Mensch besteht zu circa 80% aus Wasser. Das meiste davon ist Blut. Und mein Blut bestand aus Krebs, weshalb ich Größtenteils aus Krebs bestand. Das ist zwar nicht der Teil, der mich ausmacht, aber er gehört so zu mir wie meine einst welligen, dunklen Haare, meine Sommersprossen, meine lebendige Art oder meine langen Wimpern. Und da ich all dies beinahe auswendig kannte, wollte ich auch meinen Körper mit dem Krebs auswendig lernen. Genauer gesagt, meinen Feind.
Ich war damals vierzehn, mitten in einer Selbstfindungsphase, oder wie es Erwachsene nennen, und war mir sicher, eines Tages die Welt retten zu können. Doch Tag für Tag wurde mir ein Stück mehr bewusst, wie schwer es war, mich selbst zu retten.

Vielleicht lieber morgenWhere stories live. Discover now