2. Kapitel

26 4 2
                                    

Ich öffnete das große Fenster meines Raumes und atmete tief ein. Die kalte Luft, die in meine Lunge strömte, gab mir das Gefühl, zu leben. Ich konnte mich jedoch kaum aufrecht halten, weshalb ich es -nach langer Anstrengung und mindestens 5 Minuten- auf die Fensterbank schaffte. Jeder Atemzug, jedes Blinzeln fiel mir schwer, obwohl ich mich doch eben noch so lebendig gefühlt hatte. Plötzlich knarrte etwas, und ich wusste, dass es Mom war.
Als sie mich sah sprang sie wie ein Grashüpfer durch das Zimmer, was mich zum Lachen brachte.
"Alva komm sofort da runter! Oh Gott, das ist gefährlich, weißt du eigentlich im wie vielen Stock wir sind?"
Natürlich wusste ich das.
"Im 11. Stock, Mom"
"Sei nicht lächerlich, ich meine das ernst!"
Ich unterdrückte ein kichern. Mom hatte es nicht leicht mit mir. Ihre Tochter hatte Krebs und saß im 11. Stock am offenen Fenster, und nebenbei lachte sie, als wäre es bloß eine Treppenstufe, auf der sie sitzen würde.
Vielleicht war das meine Art, den Schmerz, all die Sorgen zu verstecken. Darüber lachen, Witze machen, es leicht nehmen. Damit man sich es vielleicht irgendwann selber glaubt, dass alles nicht so schlimm es, wie es erscheint.
Aber ich kenne die Wahrheit.
"Tut mir leid", sagte ich nun und schließe das Fenster. Zur Sicherheit zog ich auch die Vorhänge zu, um ihr zu zeigen, wie ernst ich es meinte. Dann setzte ich mich aufs Bett und ließ die Beine baumeln. Früher, als ich noch zur Schule ging, fragte mich Mom jedes Mal, wenn ich zurück kam:
"Wie war die Schule?"
Und jedes Mal antwortete ich:
"Wie immer"
Jetzt haben wir noch weniger zu reden als damals, denn im Krankenhaus passiert nicht viel. Zumindest nicht so viel, dass ich darüber reden wollte. Die meisten Gedanken und Wörter blieben einfach in mir drinnen, irgendwo, in einer der dunklen Gänge im Gehirn. Ich wollte nicht, dass sie zum Vorschein kamen. Denn ihr glaubt nicht, wie schwierig es ist, die Wahrheit zu wissen, und sie vor einem selbst verstecken zu wollen.

Vielleicht lieber morgenWhere stories live. Discover now