Leben

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An die Liebe meines Lebens,

Ich hoffe, dass du noch lebst. Nenne mich verrückt oder wie du es auch immer nennen willst, aber ich habe das Gefühl, dass zwischen uns eine Verbindung besteht. Als würde ich wissen können, ob du noch am Leben bist oder nicht. Andauernd, innerhalb der letzten sieben Monate, hat eine Stimme in mir gesagt, dass es dir gut geht und dass du noch atmest.

Doch vor ungefähr zwei Monaten, nachts, ist mich plötzlich Trauer überkommen. Ich weiß nicht, wieso, aber dennoch denke ich, dass irgendetwas passiert ist und ich würde alles dafür geben, dich weiterhin in Sicherheit zu wissen. Vielleicht hast du dich erkältet oder du hast etwas Schlechtes gegessen.

Bitte sei noch am Leben.

Ich könnte mir nicht vorstellen, wie schlimm es für mich wäre, wenn ich dich, sobald ich wieder zu Hause bin, nicht in die Arme schließen könnte. Die ganze Nacht würde ich dich küssen, überall auf deiner wunderschönen Haut – vielleicht würden wir auch mehr machen. Ich verspüre jeden Tag das Verlangen nach dir in mir. Meine Gedanken spielen mir Streiche, indem sie mir vorgaukeln, dass ich hören kann, wie du leise meinen Namen stöhnst. Für mich ist dies wie Musik in meinen Ohren und ich will endlich wieder deine Stimme hören. Ich will wieder spüren, wie du mir meinen Rücken zerkratzt. Die Schmerzen, die ich dadurch immer durchlebe, fühlen sich eher wie eine Massage an und treiben mich noch mehr dazu an, dich spüren zu lassen, wie sehr ich dich brauche.

Deinen Körper, deinen Geist und dein Herz.

Auf jeden Fall bete ich seit dieser einen Nacht täglich, dass dieses schlechte Gefühl von nichts Schlimmes zu bedeuten hat. Hoffentlich hast du nicht gespürt, dass ich vor zwei Monaten das erste Mal dem Tod nahe war.

Ich habe damals den vorherigen Brief geschrieben und ihn schon abgegeben. Da habe ich plötzlich eine Explosion ganz in meiner Nähe gehört. Es war so schrecklich. Überall lagen tote Menschen und auch noch welche, die um ihr Leben kämpften. Blut, so viel Blut. Ich habe viele meiner Kameraden verloren, mit denen ich mich abends immer unterhalten habe. Die Amerikaner haben unsere Division angegriffen mit dem Vorhaben, jeden einzelnen von uns auszulöschen. Dennoch, wie durch ein Wunder, haben einige wenige überlebt. Darunter auch ich.

Kannst du dich noch erinnern, als ich in dem allerersten Brief geschrieben habe, dass wir uns jeden Tag, bevor es dunkel wird, in einer Reihe aufstellen müssen und immer mehr Lücken entstehen? Jetzt steht jeder Soldat alleine, neben jedem herrschen große Löcher. Ich würde so gerne um sie trauern, doch unser Leutnant erlaubt es uns nicht, da wir sonst schwach wären.

Was der Leutnant nicht weiß, ist, dass ich dennoch schwach bin. Schwach wegen den Gedanken an dich.

Täglich trauere ich um dich. Ich habe einfach viel zu sehr Angst, dass ich dich nicht mehr umarmen, küssen und lieben kann, wenn ich wieder zu Hause bin. Es würde mein Herz aus sämtlichen Verankerungen reißen, es in tausende kleine Teile zerschmettern. Ich kann nicht ohne dich leben.

Eines Tages will ich mit dir eine Familie gründen. Dich heiraten, jedem zeigen, wie stark unsere Liebe trotz des Krieges ist. Wir werden wundervolle Kinder großziehen, die hoffentlich so schön und bezaubernd sind wie du. Wir werden in einem großen Haus leben, durch das täglich das Lachen unserer Sprösslinge hallen wird.

Doch davor müssen wir beide den Krieg überstehen.

Ich habe gute Neuigkeiten: Als ich heute morgen mit dem Leutnant gesprochen habe, hat er mir etwas erzählt, das mein Herz höherschlagen ließ. Er hat mir, ganz heimlich natürlich, zugeflüstert, dass der Krieg bald zu Ende sein wird. Deutschland ist schwach und Hitler sieht keinen Ausweg mehr aus dem Verlust, der uns bevorsteht.

Das Ende ist nahe.

Weißt du, was das für uns heißt? Freiheit. Wir sind werden frei vom Krieg sein, frei von Trübsal. Alles wird wieder gut werden. Ich bin mir sicher, du musst auch optimistisch bleiben. Obwohl ich mir bewusst, dass du zu nachdenklich bist und dadurch eine pessimistische Sichtweise hast. Bitte bleibe für mich positiv.

Alles wird gut.

Doch auch wenn der Krieg bald vorbei ist, weiß ich nicht, wie lange ich zurück zu dir brauche. Wir befinden uns gerade in Ostdeutschland und du bist im Süd-Westen unseres Landes. Ich werde trotz der großen Entfernung alles in meiner Macht Stehende tun, damit ich so schnell wie möglich wieder bei dir bin. Auch wenn ich Nächte durchmarschieren muss. Auch wenn ich ein Auto stehlen muss, mich in einen Zug schmuggeln muss.

Hauptsache ich bin wieder bei dir.

Um mich herum schreiben alle eifrig an ihre Familie, doch ich schreibe an dich. Bitte richte meiner Mutter und meiner Schwester aus, dass es mir gut geht, ich aber leider keine zwei Briefe schreiben darf. Ich könnte zwar in einen Briefumschlag zwei Papiere hineinstecken, doch dafür bleibt mir zu wenig Zeit.

Ich habe dennoch ein paar wertvolle Minuten, um den Brief an dich zu vollenden. Daher möchte ich dich noch einmal aufmuntern, stark zu bleiben.

Du hast genügend Kraft, mit deiner Familie alles zu überstehen.

Du hast genügend Kraft, jeden Tag etwas zu essen, sodass deine Rippen nicht so sehr sichtbar sind. Obwohl du für mich so oder so wunderschön bist.

Du hast genügend Kraft, nicht allzu viele Tränen zu vergießen. Denn ich lebe noch und wir werden bald wieder vereint sein. Ich bin mir sicher.

Du hast genügend Kraft, dich nicht nur in einer Ecke zu verkriechen und stumm auf das Ende zu warten. Lebe weiter, lass dich nicht unterkriegen.

Du hast genügend Kraft, auf mich zu warten. Denn niemand kann mich so glücklich machen, wie du es kannst. 

Ich bleibe dir bis an mein Lebensende treu, auch, falls du vielleicht jetzt gerade Zweifel daran hast. Keine einzige Frau auf der Welt könnte deiner Schönheit das Wasser reichen. Du bist vollkommen, äußerlich sowie innerlich.

Du bist die Liebe meines Lebens, ich liebe dich so sehr. Bitte pass auf mein Herz auf, denn ich vertraue es dir an.

Dein Harry.

Görlitz, am 29.April 1945

(Zensiert durch die Deutsche Bundespost, Behörde für Postzensur in Berlin. Berlin, am 1.Mai 1945)

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