Die Ankunft

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Mit diesem leeren Blick sah ich aus dem Fenster. Ich fühlte rein gar nichts. Inzwischen wusste ich gar nicht mehr, was ich überhaupt fühlen sollte. Mein Kopf lehnte an der kalten Fensterscheibe. Durch meinen Atem beschlug diese etwas. Meine rechte Hand hielt die linke meines kleinen Bruders ganz fest. Ihn wollte ich nicht auch noch verlieren. Er war der letzte, der mir geblieben war. 

Die Landschaft zog vorbei, ich achtete nicht auf meine Umgebung. Ich kannte diese Gegend sowieso nicht. Wir waren fern von unserem Zuhause, unserem ehemaligen Zuhause. Denn das Zuhause, was wir einst kannten, gab es nicht mehr. 

Mein kleiner Bruder legte seinen Kopf an meine rechte Schulter. Ich spürte seine Tränen auf meiner Haut, welche den Stoff meines T-shirts durchnässten. Er weinte still, gab keinen Mucks von sich. Und wenn, dann bekam ich es nicht mit. Ich bekam gar nichts mit. 

Der Wagen wurde langsamer, blieb schließlich stehen. Noch immer starrte ich hinaus und tat nichts.  

Erst als die Wagentür geöffnet wurde, sah ich auf. Ich blickte direkt in die blauen Augen des Fahrers. Er zeigte keine Emotionen, sagte, dass wir aussteigen sollten.

Ich zögerte, ehe ich tat, was er sagte. Mein kleiner Bruder folgte mir aus dem Auto. Noch immer hielten wir die Hand des anderen. Mit dem Ärmel wischte er sich über sein tränennasses Gesicht und schniefte. Der große Mann im Anzug holte unser Gepäck aus dem Kofferraum und gab uns zu erkennen, dass wir ihm folgen sollten. 

Zu zweit liefen wir dem Kerl hinterher. Wir gingen durch ein großes Tor, um danach dem langen Sandweg zu eines der großen Gebäude zu folgen. Es schienen sehr alte Häuser zu sein, dennoch waren sie gut in Schuss und sahen keinesfalls ungepflegt aus. Mein Blick fuhr über die weite Wiese. Man schien viel dafür zu geben, dass alles gut aussah. Denn auch die Blumenbeete und Büsche waren perfekt. Man fand nichts, was man hätte im negativen Sinne kritisieren können. 

Ich sah zur anderen Seite, am zweiten Gebäude vorbei. In der Ferne sah man einen Sportplatz mit mehreren Basketballfeldern. Einige Jugendliche warfen ein paar Körbe, wobei einer von ihnen wirklich jedes Mal traf, wenn ich hinsah. Andere saßen einfach nur am Rand und sahen zu. Mir fiel auf, dass keine Mädchen zu sehen waren. Höchstens eines oder zwei, doch war ich mir nicht einmal sicher, ob es nicht doch Jungs sein könnten. Mein Bruder und ich hatten keinerlei Informationen bekommen, wohin wir gebracht werden würden. Wir wussten nur, dass wir in ein Internat zogen und dort blieben, bis wir unseren Abschluss geschafft hatten. 

Zusammen mit dem Mann im Anzug betraten wir das Gebäude. Er stellte unsere Koffer ab und ging zur Rezeption. Neugierig sah ich mich in der Eingangshalle um. Mich erinnerte es an eine Hotellobby. Auf den Sofas hatten es sich einige Jugendliche gemütlich gemacht. Die Halle war mit Chesterfield Möbeln eingerichtet und die Decke dekoriert mit Stuck und Malereien. Einer der Jungen wurde auf uns aufmerksam. Er fuhr sich durch die schokobraunen Haare und grinste leicht in unsere Richtung. Auch die anderen sahen zu uns. Mein kleiner Bruder klammerte sich etwas an meinem rechten Arm, sah etwas grimmig zu den anderen. 

Mein Blick fuhr zurück zu dem Mann in Anzug. Er gab uns ein Zeichen, dass wir ihm folgen sollten und nahm unsere Koffer. Wir folgten ihm zur Treppe, welche wir hinauf gingen. Er sagte kein Wort. Stören tat es mich nicht. Ich würde mich hier schon alleine zurecht finden. Außerdem war mir in dem Moment eh nicht nach reden. 

Im dritten Stockwerk gingen wir durch die Zwischentür an der '14 bis 16' stand. Wahrscheinlich war damit das Alter gemeint. Das hieß, dass mein Bruder und ich getrennt wohnen würden. Zusammen gingen wir den langen Gang entlang. Bei Zimmer 3.35 blieben wir stehen. Der Mann schloss die Tür auf und trug den Koffer meines Bruders ins Zimmer. Nur widerwillig ließ der 15 Jährige meinen rechten Arm los. Ich zwang mich zu einem Lächeln und wuschelte ihm liebevoll durch seine Haare, ehe ich zusammen mit dem großen Kerl das Zimmer wieder verließ, um zu meinem zu gehen. 

Zu zweit stiegen wir die Treppe zum vierten Stock hinauf, gingen durch die Zwischentür und dann zu Zimmer Nummer 4.19. Was für eine bescheuerte Nummer. Lautlos seufzte ich, betrat das Zimmer. Ganz offensichtlich würde ich es mit jemandem teilen. Aber wenigstens schien mein Zimmergenosse recht ordentlich zu sein und behielt all seine Sachen in seinem Teil des Zimmers.

Nachdem der Anzugtyp gegangen war, schob ich leise die Zimmertür zu und ließ mich auf mein Bett sinken. Neben mir lag der Stapel mit Bettwäsche. Sie war ganz schlicht, einfach nur weiß. Mein Blick fuhr zum Bett des anderen. Anscheinend hatte man die Möglichkeit andere Bettwäsche zu benutzen, wenn man welche hatte. 

Da es mir in der Jacke zu warm wurde, zog ich sie mir aus und knöpfte den obersten Knopf meines Hemdes auf. Mein Blick fuhr zu meinem Kopfkissen. Es lag ein großer Umschlag drauf, auf dem mein Name stand. Ich nahm ihn und riss ihn vorsichtig auf, um den Stapel aus Zetteln heraus zu nehmen. Ich las nur das Wort 'Schulordnung' und mir verging die Lust mir das alles anzusehen, weshalb ich das Papier zurück in den Umschlag stopfte.

Erschöpft zog ich meine unbequemen Schuhe aus und legte mich auf mein Bett. Es dauerte höchstens 30 Sekunden, bis ich eingeschlafen war...

Milo [boyxboy]Where stories live. Discover now