Kapitel 85 - Das Wesen einer Stadt

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Nach einer unüberschaubaren Anzahl Leitern, Treppen, Plattformen und Schächten, nach der Falrey erstens die Orientierung völlig verloren hatte und zweitens nach Luft japste, traten sie hinaus auf den Vorsprung. Es war derselbe, auf den Jaz ihn schon einmal geführt hatte, das war Falrey sofort klar. Wie beim letzten Mal nahm ihm die Aussicht erst einmal komplett den Atem. Es war heller geworden während ihrer Klettertour und vor ihnen lag die Senke des Kraters im ersten Schimmer des Morgenlichts. Noch war alles unscharf, in tiefes Blau getaucht, in dem man weder Konturen noch Formen festlegen konnte, aber allein die Weite war berauschend, als würde sie einen ziehen, einen locken darauf zuzulaufen und zu springen. Schnell setzte er sich hin.

Er hörte, wie Jaz sich neben ihm niederliess und so sassen sie da und blickten hinunter auf die Stadt, die der Morgen Schatten um Schatten der Dunkelheit entlockte und damit allmählich aus dem Schlaf rief.

„Erzähl mir etwas."

Falrey war sich einen Augenblick lang selbst nicht sicher, ob er die leisen Worte gesagt oder nur gedacht hatte. Aber Jaz antwortete darauf. „Worüber?"

„Über das", antwortete Falrey und breitete die Arme aus. „Über Niramun."

„Misty weiss mehr als ich."

„Über die Vergangenheit vielleicht. Aber nicht das Jetzt." Er war sich sicher, dass er damit recht hatte. Jaz war derjenige der Niramun kannte. Er war derjenige, der sich darin bewegte, und nicht dazwischen. Wenn irgendjemand verstand, wie diese Stadt lebte, dann er.

Jaz schwieg lange, und als er anfing zu sprechen, war seine Stimme leise. „Du kennst die Zeiten, und die Stadtteile, die nach ihnen benannt sind, die Speichen, die sie durchziehen. Elin, Somn, Pjar, der Aufstieg einer neuen Sonne. Het, der Strahl nach Norden. Epa, Silur, Jun, die heisse Brücke. Nale und Ore, wo die Schatten wachsen. Sek bis Hap, der dunkelste Teil der Nacht. Die Einteilung ist mehr regelmässig als sonstwas, sagt vor allem, wo etwas liegt, auch wenn manches merkwürdig stimmt."

Er holte einen Moment lang Luft. „Die Stadt ist komplexer als das. Kein Rad mit Speichen, sondern ein chaotisches Netzwerk mit Klumpen, die sich an manchen Stellen bilden. Wie ein Pilz. Jedes Gebiet hat seinen eigenen Charakter, der in die anderen fasert. Und das ist nur, was man sieht, wenn man von oben blickt, eine Ebene. Es gibt mehrere davon, übereinander und die wenigsten wissen etwas von den tieferen. Dann die Kreise, nicht örtlich, sondern im Verhalten der Leute, die nebeneinander leben, aber aneinander vorbei, sich kaum jemals begegnen. Und es gibt die Viertel, die alles zusammen sind und beschränken mit ihren unsichtbaren Grenzen."

Er machte Pausen zwischen den Sätzen, als würde er über jedes Wort nachdenken, das er sagte.

„Die Schichten sind am klarsten zu sehen, aber am merkwürdigsten zu begreifen, weil sie sind wie eine andere Stadt. Eine andere Zeit. Ein anderes Verständnis von Realität. Es gibt die Senke. Das ist das Normale. Es gibt den Übergang zu den Wänden. Er ist anders, unsicherer. Wo ein Boden zum Dach wird, wird ein Verbündeter zum Feind, sagt man. Die meisten Puppenspieler sitzen dort, weil zusätzliche Gebäude und Tunnel am wenigsten auffallen, weil immer alles im Wandel ist. Keine Gewissheiten. Keine Allianzen, die morgen noch genauso sind wie heute. Du musst die Strömung kennen, um nicht unterzugehen.

Dann gibt es die Häuser in den Wänden. Wie hier. Sie sind... Erinnerung. Verschachtelt und wirr wie ein Gedächtnis, das Gedächtnis einer Stadt. Ein Trödelladen, dessen Besitzer vergessen hat, wo er was hingestellt hat. Nur wenige leben noch hier oben, im Westen, Leute aus dem Westviertel, denen sich selbst das zu schnell verändert. Die meisten von ihnen wirken als hätten sie sich selbst verirrt in der Erinnerung.

Niramun I - NachtschattenWhere stories live. Discover now