Kapitel 40 - Blut fremder Brüder

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Kapitel 40

Blut fremder Brüder


~Mile~

»Mile! Mile! Jetzt bleib gefälligst stehen!«
Verdammt! Sie hatte ihn gesehen! Und sie wusste, dass er sie gehört hatte. Für einen, dessen Sinne übernatürlich scharf waren, kam keine Ausrede in Frage, wie: Tut mir leid, ich hab dich echt nicht gehört.
»Guten Tag Miss Rouge«, miaute Katmo und verbeugte sich tief vor der Roten, die jedoch einfach wutschnaubend an ihm vorbei stampfte. Dicht vor Mile kam sie zum Stehen und sah ihn böse an. Sie stand ihm so nahe, dass ihre Körper sich fast berührten. Darum musste sie den Kopf auch in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können.
»Au Backe...«, maunzte Katmo noch düster, dann begann Reds Schimpftirade auf Mile einzuprasseln.
»Mile, wo warst du die ganze Nacht? Ich habe dich überall gesucht! Wenigstens eine Nachricht hättest du mir hinterlassen können! Ich hab mir echt Sorgen gemacht! Wer weiss, was dir hätte passiert sein können. Die Spione der Dunklen können überall lauern! Und du, dummer Junge, hast nichts Besseres zu tun, als die ganze Nacht in dieser verfluchten Stadt herumzuwandern! Und dann noch ganz alleine! Du hast doch eine persönliche Leibgarde, aber nein, der Herr Lichterlord läuft lieber Gefahr, von irgendwelchen Monstern in der Nacht die Kehle aufgerissen zu bekommen, anstatt den Schutz zu nutzen, der ihm angeboten wird! Mile, diese Welt ist voll von Gefahren, die du dir nicht einmal vorstellen kannst! Wie lange ist es her, dass ich dich halb erfroren im Schnee liegen sah? Wie lange ist es her, dass du und deine Schwester Oskar durch den Wald in deiner Welt gefolgt waren? Wie lange ist es her, dass ihr mir durch das Portal gefolgt seid? Ein halbes Jahr? Mile, du kennst diese Welt doch noch gar nicht! Du hast keine Ahnung, was wahre Gefahr, wahre Angst wirklich ist!«
Anfangs hatte das Mädchen in Rot wütend und energisch geklungen, doch nun klang sie eher besorgt. Ihr Wolf war durch die starken Emotionen erwacht und liess ihre Reisszähne wachsen, ihre Fingernägel scharf und ihren Geist wild werden.
»Red, es ist nichts passiert! Du musst dir keine Sorgen machen! Ich habe alles im Griff. Ausserdem war ich nicht allein, ich hatte eine Wache bei mir«, versuchte er sie zu beschwichtigen.
Red kniff die Augen zusammen. »Wer?«, knurrte sie.
»Na ja... Er...«, meinte Mile und deutete auf den Kater, dessen Fell vor Stolz in alle Richtungen abstand.
»Die Katze? Da hättest du ja gleich meine tote Grossmutter als Wache einstellen können!«, rief Red und warf die Hände in die Luft.
Katmo fauchte empört: »Also hören Sie mal, Miss! Ich würde mein Leben für Euren Gefährten geben! Ich habe den Herrschern ewige Treue geschworen! Niemand wäre für dieses Amt besser geeignet als ich!«
»Ganz genau!«, pflichtete Mile ihm bei.
Red verdrehte die Augen. Dann fragte sie: »Was habt ihr denn die ganze Nacht getrieben?«
»Nichts!«, antwortete Mile schnell.
Red zog eine Augenbraue hoch. »Ich bitte dich, Mile. Niemand rennt ohne Grund die ganze Nacht durch die Stadt!«
Mile zuckte die Schultern. Red sah ihn böse an, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie grinste Mile frech an und drehte sich zu dem Kater um.
»Sir Katmo, nicht wahr? Der gestiefelte Kater! Sagt, Ihr werdet mich doch sicher nicht belügen, nein, ihr würdet so etwas doch niemals tun! So sprecht, Sir Katmo, was hat mein Gefährte der junge Lichterlord dazu bewogen, die ganze Nacht durch die Strassen Aramesias zu ziehen?«, säuselte sie.
Sir Katmo...
Das „Sir" brachte die Augen des Katers zum Leuchten und seine Birne weich werden, denn sofort begann der Kater wie ein Vögelchen zu singen: »Ich habe den jungen Herrscher auf der Suche nach dem entflohenen Gefangenen unterstützt. Wir sind einer Ratte gefolgt, die wir zuvor in der verlassenen Zelle des Rattenfängers entdeckt hatten. Aber dieses Vieh war eigentlich gar keine Ratte, nein, in Wirklichkeit war es der gefürchtete...«
»Kater!«, rief Mile, bevor sein „Bodyguard" zu viel verraten konnte. Er wollte nicht, dass Red von dem Treffen mit Rumpelstilzchen erfuhr. Sie würde sich nur wieder aufregen oder sogar Angst bekommen. Wer weiss, was dieser Bastard von Teufel ihr damals angetan hatte... Damals, als Red in den Kerkern der Dunklen gefangen gewesen war... Doch zum Glück verstummte der Kater sogleich und sah schuldbewusst zu ihm auf.
Red drehte sich zu Mile um. Ihr roter Umhang peitschte im Wind.
»Wer? Habt ihr Feivel gefunden?«, fragte sie aufgebracht.
»Nein, Red. Wirklich nicht.«
»Mile. Ich sehe doch, dass du lügst! Du beisst dir auf die Lippe!«
»Gar nicht!«, rief Mile. Verflucht! Er musste sich wirklich abgewöhnen, sich immer auf die Unterlippe zu beissen, wenn er log!
»Von wegen! Und jetzt wirst du mit mir mitkommen und mir erzählen, was hier los ist! Ich lasse mich doch nicht von euch zwei Hohlköpfen für dumm verkaufen!«
Entschlossen stapfte Red los.
Es hätte alles so einfach sein können! Er und Katmo hätten zu dem Tempel gehen können, wären dort, wenn Rumpelstilzchen die Wahrheit gesagt hatte, auf den Rattenfänger getroffen und alles hätte sich irgendwie zum Guten gewendet. Aber nein, auf halbem Weg hatten sie auf Red treffen müssen... Wie konnte er sie bloss wieder loswerden?
»Red, ich kann nicht! Wir müssen weiter!«, versuchte er es.
Eifrig versuchte Katmo, ihn zu unterstützen: »Ja, genau! Wir sind auf dem Weg zum Tempel! Dort werden wir den Rattenfänger festnehmen! Wir sind also auf wichtiger Mission!«
Wieso? Wie hatte Mile es nur wieder schaffen können, an den einzigen Kater zu gelangen, der einfach nicht seine dumme Klappe halten konnte?
Red blieb abrupt stehen. Beinahe wäre eine Horde Zwerge in sie hineingerannt und hätte sie umgeworfen. Fluchend wichen die Zwerge ihr aus und eilten weiter.
»Ihr wollt zum Tempel? Zum Tempel dieses Gottes?«, fragte sie misstrauisch.
»Danke, Katmo! Danke!«, rief Mile und fuhr sich nervös durchs Haar.
»Woher wisst ihr, wo der Rattenfänger ist? Wieso habt ihr der Stadtwache nichts von eurer Vermutung erzählt?«, fragte die Rote.
»Weil«, sprach Mile, »Azzarro ihn sich sonst vor uns schnappt und ihn seinen Folterknechten vorwirft!«
Reds Gesichtsausdruck wurde weich. Sie trat nahe an ihn heran und strich ihm zärtlich über das Gesicht. »Mile, du hast ein so gutes Herz, ich verstehe ja, wieso du gegen das Foltern von Feivel bist, aber dieser Kerl wird nicht reden, wenn du ihn nett darum bittest. Er hat hunderte von Kindern entführt und bis heute weiss niemand, was mit ihnen geschehen ist. Dieser Mann hat Tausenden Kummer bereitet. Er ist ein Monster und wird nicht reden!«
»Aber was, wenn er... gar nicht schuld war? Vielleicht...Himmel, ich weiss es doch selbst nicht, aber ich werde mit Feivel reden!«, murrte Mile und drehte sich zu dem Kater um. »Katmo, komm. Auf, zum Tempel!«
Der Kater sprang voraus. Auch Mile setzte sich in Bewegung.
»Und woher wisst ihr, wo dieser Rattenfänger ist? Wieso seid ihr so sicher, ihn in diesem gruseligen Tempel zu finden?«, hakte Red weiter nach. Sie war einfach viel zu klug! So leicht würden sie die Rote nicht loswerden...
Mile machte den Mund auf, um ihr eine Antwort zu geben, die sie glauben würde, doch ihm viel einfach keine logische Ausrede ein! Hilfesuchend sah er den Kater an der miaute: »Wir... Ääähm... Haben einen Tipp bekommen...«
Wieso war er eigentlich auf die Idee gekommen, dass der Kater ihm helfen könnte. Wieso? Jetzt würde Red doch nur noch neugieriger werden!
Mile lief schneller.
»Jetzt warte doch mal, Mile! Und du, Kater, auch! Von welchem Tipp sprichst du? Und wer, Himmel nochmal, hat euch ihn euch gegeben?«
Wie schon gesagt; Red würde nun erst recht nicht locker lassen...
»Streng geheim!«, maunzte Katmo, ohne sich umzudrehen.
Nun kam langsam wieder das Leben in die Stadt zurück. Die Wesen kamen aus ihren Häusern, um ihrer Arbeit nachzugehen. Der grösste Teil von ihnen arbeitete ausserhalb der Stadt auf den Feldern, die die Elfen so erfolgreich angelegt hatten. Andere arbeiteten als Schmied, Bäcker, Metzger, Bauarbeiter und was es sonst noch alles gab. Es war fast so, als ob die Rebellen ihr Leben zurück hatten. Das alltägliche Leben, bevor die Dunklen die Herrschaft an sich gerissen hatten. Abgesehen von der Arbeit auf dem Feld, war ein grosser Teil der Rebellen auch in der Stadtwache tätig. Jeder Rebell hatte mindestens einmal pro Woche die Pflicht, auf der Stadtmauer Wache zu stehen oder sonst am Training der Soldaten Teil zu nehmen. So blieben die Wesen fit und sie vergassen nicht, wieso sie eigentlich hier waren. Sie vergassen die Rebellion nicht. Sie vergassen nicht den Krieg...
»Streng geheim?!«, fluchte Red. Nun war sie wirklich sauer. Ohne zimperlich zu sein, drückte sie Mile an die Wand.
»Hey!«, rief er und versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien.
»Klappe, du Mimose! Ich will wissen, was hier los ist! Mile, wieso belügst du mich?« Red klang verletzt. Es stimmte ja auch. Er log sie an. Er log ihr ins Gesicht...
Aber er hatte doch schon gesehen, was für eine Heidenangst der Teufel ihr einzujagen vermochte...
»Red... Ich...«
»Mile, ich verstehe nicht, wieso du mir nicht einfach die Wahrheit sagst!«, flüsterte sie. Dann liess sie ihn los, drehte sich um und ging.
»Red, ich...«
»Was?«
Nun klang sie nicht mehr traurig, sondern ruppig.
»Okay, ich erzähle es dir, aber du musst versprechen, dass du nicht ausrastest!«, zischte er und nahm sie am Arm. Er zog sie in eine Gasse. Hier gab es kein Licht, denn die Hochhäuser Aramesias standen hier sehr dicht nebeneinander. Katmo folgte den beiden stumm.
»Ausrasten? Es kommt darauf an, was du mir jetzt gleich erzählen wirst. Und jetzt schiess endlich los!«
Mile holte tief Luft und meinte dann: »Der Teufel hat uns mal wieder einen Besuch abgestattet...«
»Was?!«, zischte Red und zog Mile noch weiter in den Schatten der Gasse.
»Wir hatten die Nacht wirklich damit zugebracht, nach dieser Ratte zu suchen. Und dann sind wir zu der Müllhalde Aramesias gekommen. Ein Drecksloch wie es im Buche steht. Und dort haben wir diese Ratte gefunden. Doch gerade, als Katmo das Biest eingefangen hatte, da hat sich das Biest verwandet! Und dann hatte er uns erzählt, dass Feivel sich in dem Tempel aufhalten würde.«
»Rumpel... Er hat sich in diese Ratte verwandelt? Er war die Ratte, die ihr die ganze Nacht gesucht hattet?«, fragte Red verwirrt.
»Ja, genau! Ich weiss nicht, wieso er uns durch die ganze Stadt gejagt hat. Er hätte sich uns doch einfach zeigen können! Es war mitten in der Nacht! Niemand hätte ihn erkannt!«, grübelte Mile.
Red schüttelte den Kopf. »Das ist nicht seine Art. Er liebt es zu spielen. Und du, Mile, bist momentan sein liebstes Spielzeug. Oh Gott, du hättest niemals diesen Handel mit ihm eingehen dürfen!«, rief Red und fuhr sich durch ihr tintenschwarzes Haar. Er packte ihr Handgelenk.
»Sag so etwas niemals wieder!«, knurrte er. »Er hätte dich mitgenommen und der Himmel weiss, was er dir angetan hätte! Dieser Typ ist ein Monster. Er will spielen? Von mir aus! Ich werde besser spielen als er!«
Red lächelte ihn an. Eigentlich war es in dieser Gasse zu dunkel, um das sehen zu können, doch mit Miles Herrscher-Fähigkeiten war nichts unmöglich...
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und meinte: »Du bist süss, Mile...«
»Ja, unser junger Lichterlord ist wirklich hinreissend, aber wenn ich bitten darf, auf uns wartet ein Rattenfänger!«, maunzte der etwas angenervte Kater.
Red lachte. Sie schien zwar etwas erschrocken, dass der Teufel sich schon wieder in ihr Leben geschlichen hatte, schien aber auch erleichtert zu sein, denn Mile hatte sie nicht angelogen, er hatte sie schützen wollen...
»Ich komme mit euch. Und der Kater hat Recht. Wir sollten gehen, bevor sich Feivel ein neues Versteck sucht und ich glaube kaum, dass ihr scharf darauf seid, das Rumpelstilzchen uns erneut einen Besuch abstattet. Falls er uns überhaupt erneut helfen würde...«, meinte sie.
Mile nickte. Nichts war ihm lieber als Reds Gesellschaft.
So traten die drei aus der Gasse und liefen los in Richtung Tempel...

Uralte Fassung (1): Twos - Die Prophezeiung von Feuer und EisWhere stories live. Discover now