11. Ein faltiger Kehlkopf

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Ohne Worte schickte sie mich in mein Zimmer und verriegelte die Tür. Scheinbar sollte ich wie ein Häftling über meine Taten nachdenken. Leider konnte ich in diesen Zustand nicht klar denken. Ich hätte gerade fast erneut ein Kind umgebracht. Meine Gedanken waren volkommen durcheinander. Da meine Augen langsam zufielen, legte ich mich in mein Bett und versuchte, zu schlafen. In meinen Träumen plagten mich Dämonen und seltsame Kreaturen. Ich war einer von ihnen.

Als ich aufwachte, konnte ich mein Zimmer noch nicht verlassen. Ich wachte immer relativ früh auf, was jetzt ein Nachteil war. Ich verbrachte stillschweigend eine ganze Stunde auf meinem Bett, ehe die Helferinnen meine Tür aufschlossen. Sie packten mich an den Armen und führten mich in dieser Position zum Speisesaal. Es sah aus, als wäre ich ein alter, gebrechlicher Mensch, der nicht selbstständig laufen konnte. Dies zeigten auch die verwirrten Blicke der Leute an den Tischen.

Die Schwestern brachten mich zu dem Tisch, wo meine Freunde bereits saßen und ihr Frühstück zu sich nahmen. »Wenn er negativ auffällt, dann sagt ihr uns sofort Bescheid, okay?« Sie wandten sich an meine Freunde – welche bloß nickten.

Das Frühstück war verdammt seltsam. Bereits als ich den Raum betrat, hörten alle auf zu reden. Ein spöttisches Murmeln war das Einzige, was man wahrnehmen konnte. Hin und wieder hörte man Löffel, die an den Rand der Porzellanschüsseln stießen. Durch die Stille bemerkte man sofort, dass die Tür aufging. Die faltige Hexe – oder auch »Misses Torres« genannte Frau, stakste durch die geöffnete Tür. Das Klackern ihrer hohen Schuhe hallte wie Hammerschläge durch den stillen Saal. Jeder hielt die Luft an, da jeder Angst hatte, der Grund für ihre Anwesenheit zu sein. Die Blicke der Personen im Saal verfolgten jeden einzelnen Schritt der alten Frau. Als könnte es nicht anders sein, stoppten die schnellen Schritte der Frau an unserem Tisch. Sie blickte jeden von uns unglaublich herablassend an. Als wären wir Abschaum in ihren Augen. »Josh, Ethan und Avery. Kommt unverzüglich in mein Büro.« Dies konnte einfach nichts Gutes heißen. Immer, wenn diese widerliche Frau ihre Pause kürzte, um mit psychisch kranken Jugendlichen zu diskutieren, dann war es dringend. Wir folgten ihr wie kleine Küken, die ihrer Entenmutter hinterher watschelten. Aber die Vorstellung, dass diese Alte meine Mutter sei, brachte mich fast zum Erbrechen. Ich hasste jede schrumplige Falte von ihr und jeden dunklen Leberfleck auf ihrer Haut. Ich hasste ihren strengen Dutt und ihre langen Fingernägel, mit denen sie mir am liebsten die Augen auskratzen würde.

Wir öffneten die Tür zu ihrem muffigen Büro und nahmen Platz. Sie saß an ihrem Schreibtischstuhl – wie immer. Man könnte meinen, dieser stinkende Raum wäre ihr zweites Zuhause. Vielleicht auch ihr einziges. Aber diese alte Frau hatte ja genug Geld, um sich all den unnötigen Krempel zu kaufen, der in ihren Regalen und Schränken stand. So hässliche Vasen hatte ich noch nie zuvor gesehen.

Josh konnte sich fast gar nicht mehr einkriegen vor Lachen. Immer, wenn sie schluckte oder sprach, wabbelten die Falten an ihrem Kehlkopf auf und ab. Sie sah aus wie ein verschrumpelter Gockel. Er wippte mit dem Kopf immer auf und ab, wenn die Hautlappen an ihrem Hals sich bewegten. Dies machte die ganze Sache noch lustiger. Jetzt war zwar echt nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über die, vor Wut kochende, Frau lustig zu machen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Joshs Imitationen der alten Frau waren einfach perfekt. Sie räusperte sich, um klar zu machen, dass jetzt Ruhe einkehren sollte. Wir sahen auf den Boden, damit ihr faltiger Kehlkopf uns nicht mehr zum Lachen bringen konnte.

»Jungs.« Sie beachtete Avery nicht, sondern wandte sich bloß an Josh und mich. Sie sah uns scharf in die Augen. Enttäuscht und wütend zugleich. ,»Ich hätte nicht gedacht, dass man mit so einem Alter noch so unreif sein kann.« Josh zuckte bloß mit den Schultern. Scheinbar war das ein Satz, den er täglich zu hören bekommt. Zumindest könnte ich mir das bei ihm gut vorstellen.

»Josh, du wirst dein Zimmer auf einem anderen Flur der Geschlossenen bekommen.« Geschlossene? Ich hätte nicht damit gerechnet, dass Josh in der geschlossenen Station ist. »Du kommst auf den gleichen Flur wie Ethan.« Ich riss meine Augen noch weiter auf. »Geschlossene?«, fragte ich verwirrt. »Ethan. Es ist ein Wunder, dass wir dich nicht schon viel früher eingesperrt haben. Du gehörst weggesperrt. Du gefährdest das Leben deiner Mitmenschen. Ist dir das eigentlich bewusst?« Das einzige Wunder ist, dass ich dieser Schlange noch nicht den Kopf abgerissen habe und ihn wie eine Trophäe in meinem Zimmer präsentiert habe. Dieser Gedanke erwärmte meine wütenden Gedanken. Den regungslosen Kopf dieser Greisin an meiner Wand. Eine schöne Vorstellung. Ich könnte ihr so oft mein Wasser ins Gesicht kippen, wie ich wollte und sie würde mich dafür nicht anschreien. Es reichte bereits, wenn ich an ihre schrille Stimme dachte, um Ohrenschmerzen zu bekommen.

»Und warum sollte ich jetzt mitkommen, Misses Torres?« Die genervte Stimme von Avery meldete sich zu Wort. »Du kommst zwischen die beiden in ein Zimmer. Falls etwas sein sollte, haben wir wenigstens eine vernünftige Person, die Hilfe holen kann. Und außerdem brauchst du Ruhe bei deiner Krankheit. Dann hast du auf der Open-Door-Station nichts verloren. Punkt.« Für Josh war das keine große Umstellung. Er verbrachte bereits seine komplette Zeit auf dieser Station. Deshalb hielt er es auch nicht für nötig, weiterhin der zittrigen Stimme der Leiterin zuzuhören. Er starrte im Raum herum und beobachtete zwischendurch den Kehlkopf der alten Frau. Dieser Junge konnte echt über alles lachen und ich musste mich konzentrieren, um nicht laut loszulachen. Avery hörte der alten Frau genau zu. Es würde die gleiche Umstellung für sie als auch für mich werden, aber ich wollte es in diesem Moment einfach noch nicht wahrhaben. »Josh? Zeige den beiden die Station. Du bist auf Zimmer 25, Avery auf 26 und Ethan auf 27.« Er nickte bloß und stand auf. Er wollte bloß raus aus diesem ekelhaften Raum, genauso wie ich. Wir sprinteten regelrecht zur Tür und rissen hektisch die Klinke auf. Als wären wir kurz vorm Ersticken, nahmen wir einen kräftigen Zug der »frischen« Klinik-Luft. Hier wurde ja wenigstens regelmäßig gelüftet.

»Hol eben die letzten Sachen aus deinen Zimmer, damit du gleich dein neues Zimmer beziehen kannst.« Josh hatte die Hände in den Hosentaschen, um sein geliebtes Handy rauszuholen. »Beeil dich«, rief er mir bereits hinterher, als ich noch nicht einmal aus seinem Blickfeld verschwunden war. Ich rannte den Flur hinunter, um das letzte Mal meine Zimmertür zu öffnen. Aber es war kein trauriges Gefühl. Ich wusste bloß noch nicht, wie sich die geschlossene Station anfühlen wird.

In meinem Zimmer arbeiteten bereits unzählige Putzfrauen, die schrubbten und putzten. Meine Sachen lagen unordentlich auf meinem Bett. »Vorsicht! Rutschig!«, fauchte eine Putzfrau, als ich meinen Schuh auf das Parkett setzte. Zügig nahm ich meine Sachen vom Bett und verließ Tür zuknallend mein ehemaliges Zimmer.


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