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Als ich am nächsten Morgen aufwachte war die Wohnung leer und ich hatte Kopfschmerzen. Der Abend war noch lang geworden.

Danny und mein Onkel waren schon ausgeflogen und Cole hatte mir einen Zettel dagelassen, dass er doch schon zu seinem Praktikumsplatz gegangen war. Immerhin würde er so nicht mit mir und Sammy auf Shoppingtour gehen können. Das wäre bestimmt alles andere als lustig geworden.

Ich machte mir einen Obstsalat und gab ein paar Kleckse Sahne darauf. Dann beschloss ich mein Versprechen an Nathan einzulösen und mich in Form zu halten. Ich schmiss mich in eine Laufhose und ein Sporttop und stöpselte meine Kopfhörer ein.

Durch New York zu joggen war ein Erlebnis. Man sollte das als Sehenswürdigkeit anmelden. Sonst war ich immer nur auf dem Laufband oder im Wald und über die Wiesen vor der Ranch gelaufen, doch jetzt bekam ich auch mal richtig was zu sehen.

Am Times Square blieb ich stehen und setzte mich auf die Stufen. Ich beobachtete die Touristen mit ihren riesigen Kameras und den Stadtplänen.

Irgendwann rief ich Sammy an und verabredete mich für drei Uhr mit ihr in unserem Lieblingsstarbucks.

Dann lief ich zurück und verbrachte den restlichen Mittag vor dem Fernseher auf dem Sofa mit einem Glas Eistee und den Kardashians.

Sammy wartete schon auf mich als ich um die Ecke geeilt kam. Ich bestellte einen Smoothie und wir gingen langsam Richtung City. Iregndwo zwischen Lenox Hill und Turtle Bay begegneten wir ein paar Jungs, die auf mindestens ein Meter hohen Stelzen durch die Straßen liefen und Flyer für ein Theaterstück verteilten.

„Boykott.", las Sammy den Namen des Stückes laut vor. Darunter stand in unregelmäßigen blutroten Buchstaben Wenn eine Lüge zu Realität wird.

„Das ist Dannys Theaterstück.", rief ich aufgeregt.

„Ehrlich?", Sammy lächelte. „Dafür wird schon seit Wochen Werbung gemacht."

„Ich weiß!", ich strahlte voller Stolz. Das würde ich mir auf gar keinen Fall entgehen lassen.

Der Tag verging wie im Flug und am Abend saß ich mit Danny und Cole auf dem Sofa und präsentierte meine Errungenschaften. Als ich sah, dass den beiden beim Blick auf die Preisschilder fast schlecht wurde, packte ich die Tüten in mein Zimmer und legte stattdessen eine DVD mit meinem Lieblingsfilm ein: West Side Story. Ich mochte, dass der Film eine Adaption von Romeo und Julia war und mir gefiel das New York der 50er Jahre. Außerdem musste ich am Ende immer ganz fürchterlich weinen, weshalb Cole den Arm um mich legte und mich tröstend an sich drückte.

Ich rechnete ihm das hoch an, weil er den Film durch und durch albern und übertrieben fand, was er auch bei jedem Lied das gesungen wurde, verdeutlichte, in dem er lauthals mitkrächzte und sich über die Figuren lustig machte.

Als ich mich in dieser Nacht in mein Bett legte, fiel es mir schwer einzuschlafen. Letzte Nacht war ich mit meinen Nerven und Kräften vollkommen am Ende gewesen und hatte nicht mehr das Bedürfnis gehabt über mich und die Welt nachzudenken.
Doch jetzt starrte ich nur die Decke an. Durch den abdunkelnden Vorhang drang nur noch ein schmaler Streifen Licht und malte tanzende Schatten an die weißen Wände. Je länger ich darauf starrte, desto näher schienen mir die Wände zu kommen.

Ich sprang aus dem Bett und eilte zur Tür, blieb jedoch mit der hand auf der Klinke stehen. Ich hab niemanden, zu dem ich ins Bett kriechen kann, schoss es mir durch den Kopf. Meine Mutter war tot, mein Vater war tot und meine Schwester war tot. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür und glitt daran herab. Irgendwann wurden die Schatten mir zu unheimlich und ich riss die Vorhänge auf. Doch die Lichter der Stadt machten es auch nicht besser. Ich war schon an die schwarze Nacht in Colorado gewöhnt.

Also ging ich nun doch aus dem Zimmer und machte mir ein Glas heiße Milch mit Honig.

Ich setzte mich auf einen Barhocker und wickelte die dünne Strickjacke, die ich übergezogen hatte, enger um meinen Oberkörper.

Nach etwa zehn Minuten war ich mit dem Kinn in die Hände gestützt schon weggedämmert, als ich irgendwo leise eine Tür scharren hörte. Ich richtete mich auf und rieb mir die Augen.

Nach ein paar Augenblicken bog jemand um die Ecke. Ich konnte nicht auf Anhieb erkennen, ob es Cole oder Danny war, doch als er näher kam, sah ich das unverwechselbare Schimmern in Coles Augen und lächelte.

Er erschrak kurz als er mich bemerkte, entspannte sich aber schnell wieder.

„Hey New York City.", flüsterte er und setzte sich neben mich.

„Hey Cole."

„Kannst du auch nicht schlafen?", fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich vermisse sie.", sagte ich nach einer ganzen Weile.

Er nickte nur.

Ich wusste nicht wie viel Zeit verging während wir nur so dasaßen. Eine halbe Stunde, eine Ganze? Aber es war auch egal. Wichtig war nur, dass ich nicht allein sein musste. Die Einsamkeit trieb einen nach einiger Zeit in den Wahnsinn. Vor allem wenn man die letzten Monate mit 13 weiteren Menschen unter einem Dach verbracht hatte.

„Küss mich.", sagte Cole plötzlich.

„Was?", ich verschluckte mich fast an meiner Milch die inzwischen ohnehin kalt geworden war.

„Küss mich, Jackie.", wiederholte er geduldig. „So richtig, nicht auf die Wange."

„Nein.", sagte ich bestimmt.

„Wieso nicht?"

„Weil es sich nicht richtig anfühlt.", ich starrte mit aller Kraft mein Glas an. Es musste aussehen, als würde ich den letzten Schluck darin mit meinen Gedanken beschwören wollen.

„Doch, es fühlt sich richtig an, Jackie. Du hast einfach nur Angst."

„Wovor sollte ich denn bitte Angst haben?", ich warf ihm einen trotzigen Blick zu.

„Davor!"

„Wovor?"

„Du hast Angst davor, keine Angst zu haben.", er rang die Hände. „Du liebst New York und du liebst mich...", er hielt kurz inne um meinen Gesichtsausdruck bei diesen Worten zu studieren. Doch ich setzte mein bestes Pokerface auf.

„Und bis jetzt durftest du in deinem Leben nie beides haben. Aber jetzt hast du beides. Du hast mich und wir sind in dieser großartigen Stadt und du kannst nicht glauben, dass du tatsächlich auch mal Glück hast. Aber jetzt in diesem Moment, Jackie, hast du dieses Glück. Und du nutzt ihn nicht. Also, um Gottes Willen, küss mich endlich."

„Ach, verdammt noch mal.", murmelte ich, sprang von dem Barhocker auf und drückte meine Lippen auf seine. Ich spürte sein Lächeln und dann zog er mich näher an sich heran. In meinem ganzen Körper breitete sich eine wohlige Wärme aus. Ich fuhr mit meinen Händen durch seine Haare und spürte seine Hand unter mein T-Shirt gleiten. Spürte, wie er die nackte haut an meinem Rücken berührte.

Ich weiß nicht mehr, wie wir in seinem Zimmer landeten. Aber als ich am nächsten Morgen aufwachte lag ich neben ihm auf der breiten Matratze. Er hatte eine Hand um meine Hüfte geschlungen und ein Blick aus dem Fenster gab die Sicht auf die auf Hochglanz polierten Fassaden der vielen Wolkenkratzer frei, die das rötliche Licht der aufgehenden Sonne in die verschiedensten Richtungen reflektierten. Ich legte meine Hand auf Coles. Ich hatte ihn und ich hatte New York. Ich hatte den Moment genutzt und ich bereute es kein bisschen.

Ich und die Walter Boys - Status quo: NYC #altending #justwriteit #wattpad10Where stories live. Discover now