Das Portrait

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Im Untergrund schüttete es ebenso unnachgiebig, während Blitze die Nacht durchzuckten. Zielsicher schoss die Eule durch das Fenster im höchsten Turm und landete vor dem breiten Kamin, in dem bereits Feuer entfacht worden war.
Auf skurrile Art und Weise verformte sich der Körper der Eule und nahm allmählich wieder die Gestalt eines Mannes an; an seinem hellen Umhang hafteten weiche Federn.
Das Haar des Königs klebte regennass an seiner Haut. Er schnaubte genervt.
Rasch entledigte er sich des Umhangs, schnippte mit den Fingern und hielt plötzlich ein Tuch in seinen Händen, mit dem er sich das Gesicht trocknete; den Rest seiner tropfnassen Kleidung ignorierte er und ließ sich in einen bequemen, herrschaftlichen Stuhl direkt vorm Kamin fallen, wo er nachdenklich dem Flammenspiel fröhnte. Die einzige Kälte, die er wahrnahm, war jene, die sich langsam in seinem Herzen, von dem er gedacht hatte, es existiere nicht, ausbreitete. Er konnte es sich selbst nicht erklären, was in ihm vorging.


Dieses Wesen ließ ihn noch verrückt werden. Einst hatte es eine Zeit gegeben, in der er mit der Gesellschaft seiner Kobolde völlig zufrieden gewesen war. Er hatte verwunschene Kinder in sein Reich geholt und sie nach einiger Zeit in weitere Kobolde verwandelt, wenn er nicht mehr in der Laune war, Vater zu spielen oder sie durch das Labyrinth gejagt hatte, ohne sie dabei je wirklich zu gefährden. Die Menschen waren bisher für ihn eine einfache Rasse gewesen, der er nie besondere Aufmerksamkeit zuteil werden hatte lassen. Doch dieses schlichte, bescheiden wirkende Mädchen strahlte etwas aus, das ihn heimlich faszinierte - und das, obwohl ihn Vieles unbeeindruckt ließ.
Sie war kindlich neugierig, verhielt sich anders als die anderen Menschen ihres Alters; oft genug hatte er beobachtet, dass sie sich mit einer blonden Frau gestritten hatte, weil sie kein Interesse daran zeigte, mit einem Jungen auszugehen. Dann war sie meist mit tränennassen Wangen und einem Buch unter dem Arm geklemmt fortgelaufen, hatte sich im nahe gelegenen Park niedergelassen und leidenschaftlich Stücke geprobt, einige Male hatte sie auch selbst Erfundenes zum Besten gegeben.
Ihre Fantasie wirkte unglaublich lebendig; sie erschuf Wesen, gab ihnen Namen und Eigenschaften, sodass man sie vor sich sehen konnte, wenn der eigene Sinn für Fantasie noch nicht völlig verschwunden war – was das Erwachsenwerden bei den Menschen offenbar mit sich brachte. Wenn sie sich ihrer Welt hingab, strahlte ihre unschuldige Aura umso heller und er konnte ihr pures Glück spüren und eine ungeahnte Kraft ... er musste sie herausfordern, um sich sicher zu sein, dass er sich nicht in ihr getäuscht hatte.


Achtlos warf er das Tuch auf den Boden und griff nach einem Buch, das auf dem Tischchen neben ihm stand. Er klappte es an der leeren Stelle auf, in der er einen schwarzen Kohlestift gelegt hatte, überlegte kurz und begann dann zu zeichnen. Er formte zuerst die Konturen eines schmalen Gesichts, bevor er am Haar fortsetzte, in dem ein Blumenkranz eingeflochten ruhte. Er verlor beim Zeichnen jedes Zeitgefühl, es war eines der wenigen Dinge, die er noch genoss und das ihn nicht bereits langweilte. Es gab so Vieles zu zeichnen, das war gewiss, doch er war der Meinung, dass nur Weniges es wert war, es für die Ewigkeit festzuhalten.
Die weichen Lippen waren bereits etwas schwieriger. Konzentriert zeichnete er die Form, die er sich bereits oft eingeprägt hatte, setzte Schattierungen, um sie weich wirken zu lassen. Ob sie sich tatsächlich weich anfühlten ...? Es spielte keine Rolle, schließlich war sie nur ein Mensch und noch dazu so jung; er vergaß gerne, dass sein Alter in keinen menschlichen Maßstab passte. Zudem galt sie in ihrer Welt auch noch als Kind.
Eilig fuhr er fort, um seine Gedanken zu vertreiben. Er arbeitete bereits Stunden an seinem Werk, als er kurz innehielt und es betrachtete. Nun musste er sich dem letzten Schliff widmen: den Augen, die er bisher ausgespart hatte. Bei seinen regelmäßigen Besuchen in der Menschenwelt, die er nicht nur als Eule absolvierte, sondern gelegentlich auch in menschlicher Gestalt, hatte er einmal den Spruch aufgeschnappt, dass die Augen das Tor zur Seele wären.


An jenen Tag konnte er sich gut erinnern: es war ein sonniger Sommertag gewesen, als er eine belebte Straße entlang flaniert war. Für diesen Besuch hatte er sich für kurzes, rötliches Haar entschieden, das er lässig zur Seite gekämmt trug; dazu wählte er schwarze, weite Hosen und ein weißes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren sowie dunkel getönte Sonnenbrillen, die seine empfindlichen Augen vor der viel zu hellen Sonne der Menschenwelt schützen sollten.
Er hatte mit der Zeit gelernt, dass sich sein Stil von dem der Menschen erheblich unterschied, also passte er sich ein wenig an, jedoch nicht ohne seinen Geschmack zu vergessen. Keinesfalls wollte er wie die menschlichen Männer hier wirken.
Ein Blick in eine Fensterauslage, die spiegelte, bestätigte ihm, dass er gut aussah, sodass er zufrieden grinsend weiter lief.
Noch dazu genoss er die Aufmerksamkeit, die er mit seinem Erscheinungsbild auf sich zog, enorm: vor allem junge Frauen, die an ihm vorbei liefen, kicherten.
Er genehmigte sich auf einem Tischchen vor einem Café ein Gebräu, das die Menschen ‚Cola' nannten und musste überrascht feststellen, dass es vorzüglich schmeckte. Er war so sehr in seinem Genuss vertieft, dass er nicht einmal die zwei kichernden Mädchen bemerkt hatte, die in seiner Nähe Platz genommen hatten und aufgeregt miteinander tuschelten. Er leerte die Flasche in einem Zug, genoss das angenehme Prickeln und die Sonne auf seiner Haut. Als die Kellnerin sich ihm mit einer zweiten Flasche näherte, schüttelte er verneinend den Kopf, doch sie lachte nur und deutete in die Richtung der beiden Mädchen.
„Die zwei Mädels dort geben sie dir aus", meinte sie, zwinkerte ihm zu. „Und das da soll ich dir auch geben; ich schätze mal, eine Telefonnummer." Sie stellte die neue, eisgekühlte Flasche mitsamt einem Zettelchen daran auf den Tisch vor ihm.

Dankend prostete er den beiden zu, entfaltete das Papier und stellte fest, dass darauf Herzchen und die Symbole, die Menschen Zahlen nannten (so viel wusste er schon), gekritzelt waren. Höflich steckte er das kleine Papier ein. Erneut leerte er die Flasche sehr schnell, bevor er weiter zog – was auch immer es mit dieser Spielerei eines Telefons auf sich haben sollte, offensichtlich benötigte man dazu jene Symbole. Möglicherweise stellte er sich diesem Rätsel eines Tages, sollte er sich je derart langweilen.
Er lief weiter, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben. Vor einem Buchladen blieb er stehen und musterte interessiert die Auslage; Bücher waren ihm schließlich kein Fremdwort, und dort, auf einem Plakat, las er zum ersten Mal den Spruch, dass die Augen das Tor zur Seele seien.
Jareth wusste ebenso, dass die Menschen – nicht alle, jedoch viele – an den Fortbestand eines Teils ihrer selbst, einer körperlosen Erscheinung, nach dem Tod glaubten. Er mochte diese Vorstellung, wenngleich er nicht an so etwas gebunden war.
Voller Hingabe widmete er sich den Augen, die nur langsam Gestalt annahmen. Immer wieder pausierte er, schloss seine eigenen Augen und erinnerte sich an den Ausdruck in den Augen des Mädchens; lebendig, jedoch von Sorgen und Kummer gezeichnet, und doch mit einer verborgenen Stärke, die er noch kennen lernen sollte. Kindlich und dennoch erwachsen, unwissend
und doch so weise ...
Der König saß in sich zusammengesunken in dem Stuhl, während die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne seine Haut berührten. Seine Augen waren geschlossen und seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, während sein Kopf an der Lehne ruhte; in seiner Hand hielt er lose die Zeichnung eines schönen, dunkelhaarigen Mädchens, dessen Augen so hell funkelten wie Sterne am Nachthimmel.

I will be your slaveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt