Die Begegnung II - Verlorene Seelen

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  Dicke Schneeflocken fielen auf die Stadt nieder, als die Nacht nun zur Gänze hereingebrochen war. Das schwache Licht der Gaslaternen spendete zum fahlen Licht des Mondes, das durch die Wolkendecke brach, nur ein spärliches Licht.
Lautlos bewegte sich Jareth durch die Hauptstraße und erinnerte dabei an ein Raubtier, das geduldig darauf wartete, und seine Beute schließlich in die Enge drängte. Ebenso elegant und grazil waren seine Bewegungen; dicke Schneeflocken fielen vom Himmel und bildeten funkelnde, winzige Kristalle in dem wilden blonden Haar, doch er interessierte sich nicht weiter für die Schönheit der Natur oder die restliche Umgebung.

Mittlerweile zählte nur noch eines: das ungewollte Kind in sein Reich zu holen, weit fort von diesem Ort. Er konnte den dringenden Ruf der Mutter nahezu auf seiner Haut fühlen, beinahe wie ein seltsames Kribbeln. Diese Sterbliche musste wahrlich verzweifelt sein (natürlich waren sie das alle, wenn sie ihren Wunsch äußerten), denn in ihr Wunsch war enorm hartnäckig und ihr Frust so bitter, als hasste sie ihr eigen Fleisch und Blut.
Wie sehr er diese erwachsenen Menschen doch verabscheute: sie vermehrten sich immer zu der Lust wegen, und die daraus entstehenden lästigen Nachkommen büßten für die Sünden ihrer erbärmlichen Erzeuger ihr ganzes Leben lang. Für ihn waren diese Kinder jedoch etwas Besonderes; ihre Herzen waren rein und unbescholten.

Der lederne Handschuh knauerte leise, als sich seine Hand fester um die Kristallkugel seines Gehstocks klammerte. Er brachte sie in sein Reich, gab ihnen zu essen und erfüllte ihnen nahezu jeden Wunsch – er war ihnen der Vater, den sie niemals hatten, bevor sie sich allmählich ohne sein Zutun selbst in Kobolde verwandelten. Es waren die Demütigung und die Tatsache, dass sie nicht geliebt wurden, die sie veränderten; so konnten sie alles vergessen, was je in ihrem menschlichen Leben passiert war. Leider büßten sie damit auch ihres Verstandes ein und waren keine besonders inspirierenden Gefährten. Dennoch konnte er ihr Leid lindern, und das war alles, was zählte.

In der Zwischenzeit hatte er die Stadt hinter sich gelassen und folgte einem unbefestigten Weg, der ihn durch ein kurzes Stück Wald führte, ehe er nach einer Kurve ein paar hölzerne, schmale Karren auf Rädern entdeckte. Nicht weit davon entfernt war ein Unterstand notdürftig errichtet worden, in dem sich die Pferde zusammengepfercht vor der Kälte zu schützen suchten.
Die Karren waren rund um eine große Feuerstelle positioniert worden. Das Feuer war erloschen, nur orangen leuchtende Glut gloste noch vor sich hin und niemand war zu sehen.

Durch ein paar der winzigen Fenster drang schwaches Kerzenlicht, doch sonst lag der Platz in beinahe völliger Dunkelheit und Stille, wäre da nicht dieses Summen und Vibrieren, das nur er wahrnahm. Seine Augen fixierten einen Karren, der am Ende der Kette stand.
Die hölzerne Tür wurde ruckartig aufgestoßen und eine ärmlich wirkende junge Frau stolperte weinend heraus, raffte ihre abgetragenen und schmutzigen Röcke, ehe sie in seine Richtung stürmte. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, dass sich ihre Blicke getroffen hatten, doch sie lief schnurstracks, dabei laut schluchzend, an ihm vorbei. Niemand folgte ihr. Niemand schien etwas von ihrem Drama bemerkt zu haben.

Langsam löste er sich aus den Schatten des Waldes und eilte sich auch nicht sonderlich, als er erhabenen Hauptes über den leeren Platz schritt. Vorsichtig stieß er die Tür, die zuvor beinahe wieder ins Schloss gefallen war, auf und betrat das Kämmerchen.
Von der Decke hingen Bündel getrockneter Kräuter und Blumen, die zusammen mit dem warmen Kerzenwachs eine angenehme Duftnote bildeten. Der restliche Anblick, der sich dem König bot, war jedoch weniger erfreulich: schmutziges Geschirr stapelte sich in einer Ecke, an dem sich eine halb verhungerte Katze gütlich tat.

In einer Ecke stand ein schmales Bett, das dem Geruch nach zu urteilen mit fauligem Stroh gestopft war, sowie ein klappriger Stuhl, auf dem sich Wäsche türmte; angeekelt rümpfte er die Nase. Ein leises Wimmern ließ ihn aufhorchen und seine unangenehme Umgebung schnell vergessen: hinter dem Berg an Kleidungsstücken und Tüchern fand er eine alte Wiege, darin ein Neugeborenes mit zarten rosigen Wangen, das dürftig in Decken eingewickelt worden war. Er musterte es eingehend, lauschte den leisen schmatzenden Geräuschen, das es von sich gab. Sein anfängliches Wimmern wandelte sich in ein verzweifeltes Weinen.

„Ich bin hier, um dich in mein Reich zu bringen", begann er mit leiser Stimme. Das Kind verstummte sofort, so als ob es seine Worte und guten Absichten verstanden hätte. Er beugte sich und nahm es aus seiner Wiege, hielt es vorsichtig in seinen Armen. Das Neugeborene schloss seine winzige Hand um den Finger, den er ihm anbot. Jareth lächelte, erfreut, dass das Kind derart kräftig war und Lebenswillen zeigte. So jung, wie dieses Kind war, würde es einige Zeit dauern, bis es sich verwandelte – so lange würde er wieder die Rolle eines Vaters übernehmen – und der Einsamkeit zumindest für eine Weile entfliehen.

„Ich wusste, dass du kommen würdest ... dass ich dich eines Tages sehen würde." Jareth, mit dem Kind noch in den Armen, drehte sich langsam zur Tür, von der die krächzende Stimme mit seltsamem Akzent gekommen war. Die Katze floh fauchend in die Kälte hinaus.
Seiner Überraschung verlieh er Ausdruck, indem er kurz die spitzen Augenbrauen anhob, ehe sein Gesicht völlig zu versteinern schien.
Vor ihm stand eine kleine, alte Frau, die sich mit stark gekrümmten Rücken auf einen abgenutzten Gehstock stützte.

Ihr langes, weißes Haar umrahmte das verhutzelte, faltige Gesicht, auf dem sich ein fast zahnloses Grinsen ausgebreitet hatte; ihre Augen waren milchig trüb, und doch schien sie ihn direkt anzustarren.
„Wie lange habe ich darauf gewartet, dich endlich zu treffen. Mein Tod ist nicht mehr fern, ich spüre es; und doch darf ich es noch erleben, dir zu begegnen, dem König der verlorenen Kinder."  

I will be your slaveWhere stories live. Discover now