Die Ankunft - 09. August 2008


»Ich bin endlich angekommen. Maples Point ist so schön wie damals, als ich mit Connor hier war. Aus den Brettern der Hütte sickern die lieblichen Erinnerungen mit ihm. Es ist fast so, als klebe die Liebe noch in den Poren des alten Holzes. Die verliebten Versprechen hallen durch meinen Kopf, mein Herz blutet heute mehr als an jedem einzelnen trostlosen Tag des vergangenen Jahres. Ich erinnere mich, dass wir in den Flitterwochen kaum aus dem Bett kamen. Alle Gedanken an unsere Anfänge schmecken wie die Hitze in meinem Schoß, salzig nach schweißnasser Haut, süßlich nach Erregung und ein wenig herb, wie Connor, wenn er von Sinnen war und tief in mir steckte.


Ich sitze hier auf der Veranda, allein. Ich bereue, was ich tun musste. Vielleicht hätten wir nur hierher zurückkommen müssen, um uns an die große Liebe zu erinnern? Ich bereue, was ich getan habe. Aber ich habe es getan.«

Amy schaute nachdenklich von ihrem Tagebuch auf und sah über die Veranda zur Küste.
Wo ist Brownie?
Schon vor einer halben Stunde hatte ihr Hund ein Eichhörnchen in den Wald gejagt. Brownie war ein alter Junge, hellbraun gescheckt mit weißer Brust und einem schwarzen Ohr. Das Fell um die Schnauze färbte sich langsam grau.
Die Sonne rutschte am Horizont ins Meer.
Amy sorgte sich normalerweise nicht, wenn Brownie einen seiner Ausflüge machte. Er blieb schon mal ein Stündchen weg. Gerade den Wald liebte er sehr. Heute empfand Amy dennoch einen Anflug von Unruhe, diesen Wald kannte er nicht.
Ob er wieder zur Hütte finden würde?
Vor ein paar Stunden hatte sie Maples Point erreicht, eine Insel nordwestlich von Vancouver Island. Der Ort verdankte seinen Namen den berühmten Ahornwäldern, die 80 Prozent des Eilands dicht überzogen, von oben betrachtet erschien es wie ein grüner Fleck inmitten des Ozeans.


»Diese Insel birgt ein dunkles Geheimnis«, hatte Connor damals zu ihr gesagt.

Damals glaubte sie noch, das Geheimnis der Insel läge in ihrer Abgeschiedenheit. Hier war eben alles noch ursprünglich, es gab kaum Telefone, wenige Autos, keinen Handyempfang und kein Internet. Die einzige Verbindung zur Welt stellte der „Maples Point Mirror" her, ein kleines Käseblatt, das seine Redaktion hier auf der Insel hatte.


„Hier will ich mit dir hin, wenn wir alt sind. Hier will ich sterben."


Connor hatte sie in jener Zeit ernst angesehen, ihr mit einer zärtlichen Geste die Verwunderung aus dem Gesicht gestreichelt. Er hatte als junger Mann manchmal Pathos, den sie nicht verstand. Sie hatte ihn nur angelacht, die Leichtigkeit der Verliebtheit im Sinn. Wieso hätte sie denn mit 22 und frisch verheiratet auch ans Sterben denken sollen?
Heute, zwölf Jahre später, war sie dazu hier. Sie schaute die Steilküste hinunter, ihr Blick blieb einen Augenblick auf dem Feldweg haften, der in die Ferienanlage führte.
Wie ein staubiger brauner Wurm fraß er sich durch üppiges Grün, vorbei an kleineren Bäumen und Sträuchern und einer blühenden Staudenart, die Amy noch nie zuvor gesehen hatte.

Die dicken hellgelben Blüten auf dunkelgrünem Laub verströmten einen Duft wie Apfel und Vanille. Der Duft war so intensiv, dass sie ihn auf ihrer Zunge schmeckte. Ein wenig erinnerte dieser Wurm an ihr Leben: Es hatte sich mühsam bergauf gewunden, um am Schluss mit dem Rücken zum Abgrund zu enden.
Sie drehte den Kugelschreiber zwischen den Fingern, strich das Papier des Tagebuchs glatt.



»Hier wächst eine eigentümliche Pflanze. Sie riecht wie Apfelstrudel mit Vanilleeis. Jetzt erinnere ich mich, dass die Liebe unsere Flitterwochen nicht bloß in den Duft von Sex und den Zauber verliebter Blicke tauchte, sondern uns einhüllte in den besonderen Geruch der Staude, die sich zu jener Zeit über die ganze Insel zog.
Schon als ich heute Morgen ankam, auf dem winzigen Schiff von Port McNeil, erkannte ich den Duft als Erstes wieder.
Es hat sich nur wenig geändert. Den kleinen Pub unten im Ort gibt es noch, O'Sullivans oder so. Die alten Häuser, dicht an dicht gebaut, haben sich kaum verändert. Das milde Wetter hatte sie kaum verwittern lassen. Der Leuchtturm, der ist neu. Modern, mondän. Er überragt den Hafen. Der Kapitän der Nussschale erzählte mir, dass vor 2006 in einer stürmischen Nacht ein Kreuzfahrtschiff auf Grund gelaufen war, weil der alte Leuchtturm kein weit sichtbares Signal schicken konnte. Das muss man sich mal vorstellen. Es hat Tage gedauert, bis Schlepper den Koloss aus Stahl und Glas mit 300 stinksauren Luxustouristen an Bord wieder hinaus aufs Meer gezogen hatten. Der Kapitän war ein kauziger Typ, mager und mindestens 70 Jahre alt, mit Schnauzbart und einer krächzenden Stimme. Sein Atem stank nach Kautabak, seine Zähne glänzten schwarz.
Seine Nussschale hatte er „Alethea" getauft. Das Schiff war sein ganzer Stolz und benannt nach seiner Lieblingshure in Port McNeil. Er erzählte das mit Begeisterung und tiefer Wärme in seiner Stimme – nicht mit der Scham eines Mannes, der zu einer Hure geht. Ausgezeichnet, ich bin also an Bord einer schwankenden Hure hierher geschippert, mit einem Fährmann namens Gustav. Ein glänzender Auftakt für ein furioses Ende, Amy.«
Sie grinste. Wer weiß, vielleicht war Gustav auf der „Alethea", dem Hurenboot, ihre Version von Charon, dem Fährmann in die Unterwelt.
Sie lachte über sich selbst und dachte daran, wie sie von der „Alethea" kletterte und den ersten Blick auf Maples Point warf. Alles war noch so wie damals. Und damals war wohl auch schon alles so wie hundert Jahre zuvor. Die moderne Welt war hier nicht angekommen.


In Animae Veritas - Insel der verlorenen SeelenWhere stories live. Discover now