Amy musste irgendwann mit ihrem Notizbuch auf dem Kopfkissen und Mr. Blueberry Muffin in ihrem Kopf eingenickt sein. Sie erwachte, als die Sonne hoch am Himmel stand und durch das Fenster über dem Bett ihren nackten Bauch wärmte. Wenn ihr Bauch warm wurde, kribbelte die lange Narbe eine Hand breit oberhalb ihrer Scham. Sie kratzte sich schlaftrunken und schwang die Beine aus dem Bett.


Der Duft des Sommers am Meer, gemischt mit dem Duft von Apfelstrudeleis und Sahne, lockte sie auf die Veranda.


»Diese Stauden sind nicht sehr hilfreich, wenn einem der Magen knurrt«, witzelte Amy vor sich hin. Der Schrecken der vergangenen Nacht schien vergessen.


Brownie lag ganz vorne auf der Veranda und sonnte sich, sie schnaufte erleichtert.


»Na, alter Junge, was hast du heute Nacht getrieben?«


Träge hob der Rüde den Kopf. In seinem Fell klebte etwas Dunkelbraunes.


»Du bist ja ganz dreckig, komm her.«
Brownie wirkte müde, er hatte sich die Nacht um die Ohren geschlagen und offenbar gejagt. Sein Fell rund um die Schnauze war bräunlich verkrustet. Brownie hasste es, sich waschen zu lassen. Er sprang mit großer Begeisterung in jede dreckige Pfütze, in jeden veralgten Teich, lief durch Schlamm und sprang ins Meer. Doch unter der Dusche wurde aus dem stattlichen 12-jährigen Rüden ein winzig kleiner, ängstlicher Hund. Sie hatte das nie verstanden. Sie ersparte ihm, wann immer möglich, die Dusche. Nur wenn er so dreckiges, verklebtes Fell hatte, musste es sein.
Nach dem Brownie erstaunlich teilnahmslos unter der Dusche ausharrte, beschloss Amy, mit ihm in die Stadt runter zu laufen, um zu frühstücken und Lebensmittel einzukaufen. Sie kam an den Ferienhütten von Sheila und den Andersons vorbei.
Amy spürte die Neugier in ihrem Kopf aufblühen.
War zwischen Matthew und Sheila was gelaufen? Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum in aller Welt sie das interessierte. Vielleicht konnte sie Sheila zu einem gemeinsamen Frühstück überreden. Die Tussi aus New York würde sicher nicht kochen, die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Frau für Pancakes und Waffeln unten in der Stadt überreden konnte, lag hoch.

Pancakes wirkten wie eine Wahrheitsdroge, Amy kannte niemanden, der bei Pancakes mit Sirup nicht in Plauderlaune geriet.
 Mr. Anderson saß in einem hölzernen Schaukelstuhl auf der Terrasse und nickte ihr freundlich zu. Der karamellartige Geruch seiner Pfeife mischte sich in kleinen Rauschwaden mit dem Apfelstrudelduft der Stauden. Amys Magen knurrte ungeduldig.
Mr. Anderson war ein kleiner, dunkelhaariger Mann Mitte fünfzig, mit einem deutlichen Bauch und einem Schnauzbart. Seine Lippen erinnerten an eine Bockwurst, die zu heiß gekocht wurde und geplatzt ist. Das verlieh seinem Gesicht Charakter.
Er wirkte gar nicht so verschlossen, wie Mrs. Hubert erzählt hatte. Sie bat sie eindringlich, sich von den Andersons fernzuhalten – doch als sie den alten, freundlichen Mann im Schatten der Veranda sitzen sah, höflich grüßend, Pfeife rauchend, mit verschmitztem Lächeln, leuchtete ihr das nicht ein.
Er wäre so ein Käse-Bier-Muffin, mit Rauchsalz gewürzt. Der dämliche Gedanke heiterte sie auf. Brownie trottete ungewohnt langsam hinter ihr her, die Nacht steckte ihm offensichtlich noch in den Knochen.
Als sie Sheilas Hütte erreichte, staunte sie.

Diese Hütte schien erst vor kurzem frisch lasiert worden zu sein – die silbergraue Patina der anderen Hütten fehlte, stattdessen sah das Holz ganz neu aus. Sie stieg eine imposante, breite Treppe aus gebleichtem Holz hinauf und stand dann vor einer weiß gekalkten Tür.
Sie klopfte. Die Tür quietschte und öffnete sich einen Spalt weit, anscheinend stand sie offen.
»Sheila, sind Sie da?«, rief Amy hinein in die Stille des Hauses. Keine Antwort.
»Sheila, ich bin's, Amy. Ich wollte fragen, ob Sie mit mir frühstücken gehen möchten.« Wieder keine Antwort. Amy öffnete die Tür ein Stück.
»Sheila? Sind Sie da?«
Die geöffnete Tür erzeugte Durchzug und saugte die Luft aus der Hütte direkt in Amys Gesicht. Übelkeit, Ekel. Der faulige Gestank von Verwesung trieb ihr die Magensäure im Hals hoch. Der Gestank von gestern Nacht sickerte ihr in die Nase, süß wie Honig, überlagert von Ammoniak und Eisen, nur hundert Mal stärker. Amy würgte reflexartig, die Luft ließ sich kaum atmen, so als habe die schwere Süße allen Sauerstoff verdrängt. Im gleichen Moment preschte Brownie laut bellend in Sheilas Hütte. Amy rief den Hund zurück – doch er kam nicht.
Ängstlich folgte sie Brownie, um ihn aus der fremden Hütte zu holen.
»Sheila, sind Sie okay?« Die Nervosität in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Sie wusste von Mrs. Hubert, dass Sheila nur zu gern Wutanfälle erlitt, und wollte keinesfalls ein schlechtes Verhältnis zu ihrer "Nachbarin". Hatte Mrs. Hubert nicht erzählt, dass Sheila schon mal Waschbären in der Hütte hatte und wegen Ungeziefer ausgerastet war?

In Animae Veritas - Insel der verlorenen SeelenWhere stories live. Discover now