P R O L O G U E

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Im Jahr 2015

"Mach das du rauskommst!" "Aber Miss Johnson-" "Nein. Es reicht, verschwinde!" schrie die alte Frau schrill und sichtlich verärgert. Sie warf mir ungelenk einen Koffer vor die Füße, auf die nassen Stufen vor meinem Kinderheim, meinem ehemaligen Zuhause. "Du hast die letzten 70 Jahre hier verbracht. Es ist genug!" beschwerte sie sich. "Du bist erwachsen, nimm dein Leben endlich selbst in die Hand." Die alte hölzerne Tür knallte zu und ich konnte durch das milchige Glas nur noch die kleine Lampe im Flur erkennen, sie spendete nur wenig Licht und erlosch nach wenigen Sekunden.

Ich war allein, kein Zuhause, kein Geld, keine Freunde oder Familie, einfach nichts, was mir in dieser Situation hätte helfen können. Es war aussichtslos, mit meinen bereits durchgelaufenen Schuhen machte ich mich auf, nur um ziellos durch die, vom Regen überfluteten, Straßen von New York zu schlendern. Mein Körper zitterte vor Kälte, mein Kopf dröhnte vor Müdigkeit und mein Magen knurrte. Die ersten Straßenlaternen erleuchteten die Straßen flackernd mit ihren gelblichen Lichtkegeln, und der Asphalt schimmerte im Dunkeln als das Licht sich darin spiegelte. Der Verkehr legte sich allmählich und Ruhe kehrte in die sonst immer stark belebten Straßen von New York ein. Ob im Heim für Obdachlose Platz ist? Ich steuerte hoffnungsvoll auf das verwitterte Gebäude zu, indem ich erwartete eine Bleibe zu finden, zumindest eine Zeitlang.

Auf den steinernen, ebenfalls nassen, Stufen stand ich nun und klopfte an die knarrende Tür. "Hey, schickes Köfferchen." Auf der anderen Straßenseite torkelte ein betrunkener Mann umher, der etwas Panik in mir auslöste. Was hatte ich denn erwartet? Nachts allein in New York zu sein, war das gefährlichste, was mir bisher widerfahren war. Der Mann begann in meine Richtung zu stolpern während er an den Wänden der Häuser auf seinem Weg halt suchte, um auf den Beinen zu bleiben. "Hast du da etwa Geld?", fragte er schelmisch und fing zu lachen an. Ihn weitestgehend ignorierend hämmerte ich weiter gegen die verschlossene Tür. "Du dumme Göre." der Kerl lachte nur noch lauter und deutete auf ein rotes Blattpapier das mit Klebeband provisorisch an der Wand des Heimes befestigt war. "Wegen Renovierung geschlossen" ich atmete tief durch und drehte mich zu dem mir unbekannten Mann herum, dabei hielt ich den Koffer dicht vor mich. Es war mein einziger Besitz und ich war gewillt ihn zu schützen, wenn ich musste. "Ich muss hier durch." nuschelte ich und lief eilig an ihm vorbei, doch er folgte mir. "Warte!" dröhnte er, was ein leises Echo in der Straße auslöste. Ich lief weiter, bog in mehrere Straßen ein und versuchte ihn dadurch abzuschütteln. Den Koffer weiterhin fest im Griff, aber er ließ nicht von mir ab. Die Seitenstraße, in der wir uns befanden, war wie leer gefegt und der Betrunkene schien sich endlich zu entfernen. Also beruhigte ich mich etwas und verlangsamte meine Schritte.
Plötzlich tauchten auf dem Weg vor mir zwei weitere betrunkene Gestalten auf. "Süß die kleine!", rief einer der beiden dem Mann hinter mir zu. Den Koffer fest umschlungen wollte ich rückwärtsgehen, mit der Absicht die Straßenseite zu wechseln. Allerdings stieß ich mit dem Rücken gegen etwas Großes und blechernes, schnell war klar, dass das ein Auto war, das mir den Weg versperrte. Eingekesselt. Die Männer links und rechts von mir näherten sich mir immer weiter. Die Angst in mir gewann die Überhand und ich suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse.
Wegen des Autos war die Straße zu eng, um den Kerlen ausweichen zu können. Als einer von ihnen nur eine Armbreite von mir entfernt stand aber nicht die Absicht zeigte von mir fernzubleiben, tat ich das, was mir als Erstes in den Sinn kam. Ich zog mein Taschenmesser, das ich nicht zum ersten Mal verwendete, aus meiner Hosentasche und stach es ihm, von Panik geleitet, in die Brust. Der Betrunkene fiel kurz darauf reglos zu Boden aber der Anblick seines schlaffen Körpers löste in mir nicht etwa Angst oder andere Gefühle dieser Kategorie aus. Es war als wäre ich in einer Starre gefangen während ich mir ansah, was ich getan hatte, aber anstelle von Angst oder Panik verspürte ich das Gefühl von Stärke und Überlegenheit. Mir war durchaus bewusst, dass es ein scheußliches Vergehen war einen Menschen seines Lebens zu berauben, aber dieser Gedanke drang innerhalb dieses Augenblicks nicht zu mir durch. "Na Warte!" knurrte einer, der von den dreien noch übrig war, bedrohlich. Einer der Männer tat einen weiteren Schritt auf mich zu, den packte ich mir und schlug ihm den Koffer gegen seinen Kopf, was auch ihn außer Gefecht setzte. Der letzte dieser Truppe versuchte zu fliehen aber ich hatte ihn rasch eingeholt. Ich kannte meine Kräfte, so wunderte es mich nicht das seine Rippen unangenehm knackten als ich meine Faust mit aller Kraft dagegen stieß. Als auch der letzte zu Boden gefallen war ließ ich all das, was mir geblieben war zurück und rannte davon. Mein Koffer, dass letzte, was ich noch besaß, war mir in diesem Moment einfach egal, ich wollte fort von diesem Albtraum. An der nächsten Abbiegung setzte ich mich auf den Boden und begann augenblicklich zu weinen. Niemand konnte das verstehen. Ich kannte weder meine Eltern, noch hatte ich Freunde oder Verwandte. Ich war allein. Interessierte das jemanden? Nein. Mein T-Shirt und meine Jeans waren aufgrund des Regens so nass, das man die Tränen darauf nicht sehen konnte. Den Rest der Nacht verbrachte ich an derselben Stelle, draußen auf der Straße. Die Kälte und Nässe des Asphalts bahnten sich einen Weg durch meine Kleidung und es fröstelte mich ungemein.
Einige Zeit später bemerkte ich nur beiläufig das blinkende Blaulicht, das aus der Seitenstraße bis zu mir vordrang, aber ich kümmerte mich nicht weiter darum.

Zur Heldin verdammt - Das Spiel beginntWhere stories live. Discover now