Kapitel 7

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Nach der Versammlung, in der das Urteil über mich gesprochen worden war, führte mich Ohitika nach draußen. Meinen Rucksack und all meine Habseligkeiten durfte ich leider nicht mitnehmen. Sein Tipi stand im äußeren Bereich des Dorfs, nahe am Waldrand. Ich musste sofort daran denken, dass ich so vielleicht besser fliehen könnte. Wenn sich die Gelegenheit ergab, wollte ich sie nutzen, denn ich würde garantiert nicht als Gefangene in einem Indianerdorf versauern. Irgendwo musste ich doch auf andere Weiße stoßen. Weiße ... Jetzt dachte ich schon wie ein Indianer.

Das Tipi von Ohitika war kleiner als das Versammlungszelt. Auch hier war der Boden mit Decken und Fellen ausgelegt und wirkte dadurch sogar recht gemütlich. An den Zeltwänden standen allerlei Gegenstände für den täglichen Gebrauch, sowie ein paar dieser dreifüßigen Gestelle mit Weidengeflecht, die als eine Art Rückenlehne dienten.

An der Feuerstelle saß eine junge Frau, eher ein Mädchen, die mit einer Handarbeit beschäftigt war. Sie hielt ein zugeschnittenes Lederstück in den Händen und führte mit einer dicken Knochennadel Stiche aus. Als sie aufblickte und ein Lichtstreifen von draußen auf ihr Gesicht fiel, sah ich, dass sie ziemlich hübsch war. Sie hatte große braune Rehaugen, ebenmäßige Züge und dicke rabenschwarze Zöpfe, die über ihre Schultern fielen. Ihre Ohren schmückten runde Anhänger, die etwa so groß waren wie Zwei-Euro-Münzen und aus einem glänzenden gelblich-weißen Material bestanden, das wie Perlmutt schillerte.

Sie konnte kaum älter sein als ich, dachte ich bei näherem Betrachten. War das etwa seine Frau? Bei dem Gedanken verspürte ich einen leisen Stich der Eifersucht, obwohl das total unsinnig war. Ich wollte doch nichts von Ohitika!

Das Mädchen hatte seine großen Augen unverwandt auf mich gerichtet. Sie blickten mich genauso durchdringend an wie Ohitikas und auf einmal fiel mir auch die Ähnlichkeit in ihren Gesichtszügen auf — die gleiche gerade Nase, die hohen Wangenknochen und vollen Lippen ... Vielleicht war sie seine Schwester.

Ohitika erzählte ihr etwas auf Lakota und sie hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen. Dann neigte sie den Kopf und legte ihre Handarbeit beiseite. Ohitika verließ das Zelt und das Mädchen kam auf mich zu. Sie bewegte sich so anmutig wie eine Balletttänzerin. Im Gegensatz zu ihr kam ich mir wie ein Trampeltier vor.

„Wihinapa", sagte sie und zeigte auf ihre Brust, als sie vor mir stehen blieb. Sie war etwa genauso groß wie ich.

Ich nahm an, dass sie mir damit ihren Namen sagen wollte. „Wi-hi-napa?", wiederholte ich. Die fremdartigen Laute kitzelten meinen Rachen. Es war eine sehr kehlige Sprache.

Sie lächelte und schien sich zu amüsieren. Wahrscheinlich hörte sich meine Aussprache für sie komisch an. Ich sagte ihr meinen Namen und sie wiederholte ihn, wobei sie ihn genau wie Tatanka Wakon mit einem „l" statt einem „r" aussprach.

„Malie." Auch nach mehrmaligem Vorsprechen gelang es ihr nicht, das „r" korrekt nachzuahmen. Vielleicht gab es in ihrer Sprache diesen Buchstaben nicht. Wie bei den Chinesen, fuhr es mir durch den Kopf. Ich zuckte mit den Schultern. Es störte mich nicht weiter. Ich würde sowieso nicht lange bleiben.

Wihinapa zog die Brauen zusammen, als wäre sie über ihre eigene Unfähigkeit frustriert. Dann wanderte ihr Blick an mir herunter und ihre Augen wurden schmal. Wahrscheinlich waren meine nackten Beine hier ein Tabu. Ich hatte bisher bei allen Frauen eine Art lange Hose unter dem knielangen Kleid gesehen. Sie winkte mir, mitzukommen, und führte mich in den hinteren Bereich des ovalen Zeltinneren. Dort lagen einige gestapelte Lederdecken, Kochgeschirr und verschiedene Taschen und Säcke aus Leder, deren Inhalt ich nur erraten konnte.

Wihinapa schlug eine Lederdecke auf, darin kam ein Kleid aus weißem Wildleder zum Vorschein. Als sie es auseinanderfaltete und vor mir hochhielt, sah ich, dass es an den Ärmeln und im Schulterbereich bestickt war — nicht mit Perlen, wie ich es oft bei indianischem Schmuck gesehen hatte, sondern mit länglichen dünnen Streifen in Rot-, Braun- und Gelbtönen. Unten am Saum und unter den Ärmeln hingen lange Fransen herab. Es sah eigentlich ganz hübsch aus und das Leder fühlte sich weich und geschmeidig an. Sie hielt mir das Kleid entgegen und blickte mich auffordernd an.

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteWhere stories live. Discover now