Kapitel 11

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„Hallo, weißes Mädchen", rief der bärtige Tom mit seiner volltönenden Stimme.

Ich hielt auf meinem morgendlichen Weg zum Flus inne und drehte mich zu ihm um. Er hatte die letzte Nacht im Zelt des Häuptlings verbracht und dort ein reiches Mahl vorgesetzt bekommen. Noch bis spät in die Nacht hatte man das Gelächter und die Stimmen aus dem Tipi hören können. Die Männer hatten offenbar lustige Jagdgeschichten ausgetauscht. Ohitika war nicht eingeladen gewesen, denn diese Ehre blieb den älteren, angesehenen Kriegern vorbehalten. Ich nahm also an, dass er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, mit dem Häuptling wegen eines Trips zur Höhle zu sprechen.

„Hallo, Tom", erwiderte ich. Der noch leere Wassersack hing lose in meiner Hand.

Er kam auf mich zu und blieb drei Schritte von mir entfernt stehen. Einige Frauen, die in der Nähe beschäftigt waren, beobachteten uns, konnten uns aber nicht verstehen, da er Englisch sprach. „Mary, richtig?", fragte er.

Ich nickte ergeben, ich hatte mich damit abgefunden, dass jeder hier meinen Namen anders aussprach.

„Bist gestern ziemlich schnell abgehauen", sagte er und kratzte sich am Nacken.

Ich schaute auf meine Mokassins herunter. „Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich ... habe nur schon lange keinen Weißen mehr gesehen."

„Wie lange bist du schon hier?"

„Es müssten jetzt fast zwei Monate sein."

„Und sie haben dich gut behandelt?"

„Ja." Ich war überrascht, als das Wort ohne eine Sekunde zu zögern aus mir herausschoss.

Er zupfte sich an seinem wilden Bart, der nicht nur über sein Kinn und seinen Hals wucherte, sondern auch bis hinauf zu den Wangen reichte. „Nun gut, das hätte ich auch nicht anders erwartet. Mazzukata ist ein anständiger Mann, für einen Indianer."

Ich kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts.

„Ich breche bald auf", fuhr er fort. „Wenn du willst, kann ich dich ein Stück mitnehmen, in Richtung des nächsten Forts. Dann kann sich das Militär um dich kümmern; dich zurück zu deinen Eltern bringen oder wo auch immer du herkommst."

Ich schaute ihm zum ersten Mal richtig in die Augen. Grau waren sie, nicht schwarz oder braun wie die aller anderen um mich herum, und umrandet von einer Vielzahl kleiner Fältchen, die tiefe, dünne weiße Furchen in die gebräunte Haut gegraben hatten. Er wirkte vertrauenswürdig. Hätte er mir das Angebot vor einem Monat gemacht, vielleicht sogar vor einer Woche, hätte ich vermutlich ohne viel zu überlegen zugestimmt.

Aber dann dachte ich an Wihinapas tröstende Hand auf meinem Rücken und an Ohitikas ernste Bereitschaft, mir zuzuhören. Und auch an Tatanka Wakons faltiges Gesicht mit den blitzenden, klugen Augen, an die kleine vertrauensvolle Zica, und an Mazzukatas zurückhaltende Autorität ... Bisher hatte man mich nicht wie eine Gefangene behandelt und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es mir unter Weißen besser ergehen würde.

„Also?", hakte Tom nach und blinzelte in die tief stehende Sonne, um die Zeit abzuschätzen. „Das Fort ist nur vier Tagesritte entfernt."

Jetzt schlüpfte Wihinapa aus unserem Zelt. Sie lächelte mir zu, sodass ihre weißen Zähne im Sonnenlicht blitzten. Doch es waren vor allem zwei kohlschwarze, unergründliche Augen, die mir in den Sinn kamen, als ich mit fester Stimme zu Tom sagte: „Nein." Ich schüttelte zur Betonung den Kopf. „Danke, aber nein. Ich kann noch nicht hier weg."

Er zuckte mit den Schultern. „Na ja, wie du willst. Wenn du es dir anders überlegst ... ich komme bestimmt wieder einmal vorbei." Er streckte eine schwielige Hand aus und ich schüttelte sie.

Plötzlich Indianer - Eine ZeitreisegeschichteWhere stories live. Discover now