20 Arena Tag 15 Reue

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Ich sehe mich selbst. Ich rase auf Noel zu. Ich verdrehe Mirandas Hand und schleudere ihren zierlichen Körper gegen die Wand. Das dort verborgene Kraftfeld leuchtet auf und die Kanone verkündet ihren Tod. Ich sehe mich selbst, wie ich langsam realisiere, was ich getan habe. Wie ich wegrenne. Ich schlage die Augen auf. Ich fühle mich leer. Einfach nur noch leer. Bereit, aufzugeben. Alles was ich sehe, ist eine graue, triste Wand. Ich setze mich auf. Mein Magen knurrt, aber ich ignoriere ihn. Mal wieder. Ich lege meine Wange an die kühle Wand. Sie ist noch heiß von gestern, vom Weinen und so ist die Kühle sehr angenehm. Ich versuche, mich damit abzufinden, dass ich wie erwartet alleine bin. Aber irgendetwas in mir ist trotz allem enttäuscht. Was habe ich denn erwartet? Selbst wenn mich jemand suchen würde, wie könnte er mich hier finden? Die Arena ist zu groß, zu unübersichtlich. Ich schließe meine Augen wieder und lasse mich einfach fallen. Ich versinke in den Vorwürfen. Plötzlich vernehme ich ein Geräusch. Ich reiße die Augen auf, ziehe blitzschnell ein Messer aus meinem Gürtel und halte es vor mir ausgestreckt hin. „Wer ist da?" Keine Antwort. „Zeig dich gefälligst." In meiner Stimme schwingt ein seltsamer Unterton mit. „Ruby?" Ich kenne diese Stimme. Das kann nicht wahr sein. Wie hat er mich gefunden? Eine Gestalt löst sich langsam aus den Schatten neben der Türe und kommt auf mich zu. „Bleib weg von mir." Aber er hört nicht auf mich. Natürlich hört er nicht auf mich. „Ruby. Ich dachte, ich würde dich nie finden." Meine Hände mit dem Messer beginnen leicht zu zittern. „Liegt vielleicht daran, dass ich nicht gefunden werden wollte." Er macht einen Schritt auf mich zu. Ich hebe das Messer in seine Richtung. „Bleib stehen. Noel, ich warne dich." Ohne meine Warnung überhaupt zu beachten, kniet er sich vor mich hin. Seine Hände umfassen meine und er zieht sanft das Messer aus meinem Griff. „Ich weiß, dass du mir nichts tun wirst." Ich sehe in seine blauen Augen und kann darin nichts von dem lesen, was ich erwartet habe. Da ist kein Hass. „Woher?" Ein leises Lächeln umspielt seine Lippen. „Du rastest immer nur aus, wenn du glaubst, dass ich in Gefahr bin. Weil du mich retten willst. Du willst mich immer nur retten." Ich starre ihn ungläubig an. Wie kann er das witzig finden? Nimmt er das überhaupt nicht ernst? „Geh weg. Lass mich in Ruhe." Meine Stimme klingt nicht mehr nach mir. Sie ist gefühllos, leblos, hart. Noel lässt sich davon nicht beeindrucken. „Ich gehe nur, wenn du mit mir gehst. Vorher nicht. Und es gibt nichts, dass du tun kannst um das zu ändern." Ich unterdrücke die Flüche, die ich ihm jetzt am liebsten an den Kopf geworfen hätte. „Verstehst du denn nicht, dass ich dich damit nur beschützen will? Ich bin gefährlich, verdammt noch mal. Ich könnte wieder die Kontrolle verlieren und dich umbringen. Ich bin ein verdammtes Monster und nichts was du sagst ändert daran etwas." Zum Schluss brülle ich ihn fast schon an, so verzweifelt will ich, dass er einfach wieder verschwindet. Er sieht mich nachdenklich an. „Tut es dir leid, was du getan hast? Dass du Miranda gegen die Wand geschleudert hast?" Ich senke meinen Blick. „In meinem ganzen Leben habe ich nichts mehr bereut. Zumindest ist es jetzt gerade so." Das ärgerliche Grinsen kehrt auf sein Gesicht zurück. „Siehst du? Monster kennen keine Reue. Außerdem, wenn du tatsächlich eines wärst, dann hättest du sowohl mich als auch Daniel und Rose schon längst umgebracht." Ich betrachte ihn misstrauisch. „Wo sind die beiden überhaupt?" Sein Grinsen wird breiter. „Sie warten vor der Tür, bis du endlich aufgibst und mit mir kommst." Ich verdrehe die Augen und stöhne genervt auf. „Na super. Und was ist, wenn ich nicht mitkomme? Was machst du dann?" Schon wieder wechselt er abrupt das Thema. „Warum hast du das eigentlich gemacht? Das mit Miranda." Ich werfe ihm einen ungläubigen Blick zu. „Hast du mir denn nicht zu gehört? Ich bin ein-„ „Ja, ja schon klar.", unterbricht er mich. „Darüber können wir später noch streiten. Ich glaube, dass du während du es getan hast irgendwas vor Augen gehabt hast, dass deine Reaktion ausgelöst hat. Und ich will wissen, was das ist." Meine Gedanken schweifen ab. Er hat Recht. Das ist es. Der Grund für die Reaktion. „Der Traum." Ich sage das mehr zu mir selbst als zu ihm, aber er hört es trotzdem. „Was für ein Traum?" Ich sehe in seinen Augen nichts, als den Wunsch mir zu helfen. „Meinen Albtraum. Den von gestern. Ihr seid alle..." Ich weiß nicht wie, aber Noel scheint zu wissen, was passiert ist. „Wir sind alle gestorben, ist es das?" Ich nicke. „Ja. Und der Traum erklärt meine Reaktion. Aber er ist keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Vielleicht hast du Recht und ich bin kein Monster. Aber ich werde mir das, was geschehen ist ewig vorhalten. Und ich kann es nicht vergessen. Ich kann nicht." In dem Augenblick breche ich erneut in Tränen aus. Ich kann nicht mehr sprechen, werde von meinen Schluchzern durchgeschüttelt. Sofort legt Noel seine Arme um mich, genau wie beim letzten Mal. Ich drücke meinen Kopf an seine Schulter. Seine Nähe macht die Schuld, die mich erdrückt, erträglicher. Er lässt sie nicht verschwinden, er hebt sie nur etwas hoch, damit ich wieder atmen und denken kann. „Du bist kein Monster, Ruby. Du bist stark und mutig und nebenbei auch noch mitfühlend. Denkst du nicht, dass ich dich immer noch hassen würde, wenn du wirklich ein Monster wärst?" Irgendwie schaffen es seine Worte, die dicke Mauer aus Hass zu durchdringen, die ich um mich gebaut habe und ich glaube ihm. Auch wenn ich überrascht bin, dass er mich so sieht. „Danke." Ich verharre noch länger in dieser Position. „Noel. Was ist mit Daniel und Rose? Hassen die mich?" Ich sehe zu ihm auf, er schüttelt den Kopf. „Nein, tun sie nicht. Klar hat es sie anfangs erschreckt, weil sie nicht damit gerechnet haben. Aber ich habe mit ihnen geredet und ich glaube sie verstehen es jetzt, oder versuchen es wenigstens." Das lässt mich wieder nachdenklich werden. Sie verstehen es? „Wie können sie es verstehen, wenn ich das selbst nicht kann?" Ich wundere mich sehr über Noels Grinsen. „Weil ich es verstehe." Aha, er versteht es also. Interessant. „Und?" Ich sehe verwirrt in seine Augen. „Was und?" Wieso wird sein Grinsen immer breiter? „Kommst du jetzt mit uns mit?" Keine Ahnung. Aber das sage ich ihm nicht. „Warum bleiben wir nicht erst mal hier? Ich hab nicht sehr viel Schlaf bekommen mit all den Albträumen und außerdem habe ich seit gestern nichts mehr gegessen oder getrunken." Noels Blick verändert sich. Er wirkt jetzt wieder besorgt, aber auch leicht verärgert. „Warum hast du denn nichts mehr gegessen?" Ich zucke mit den Schultern. Ich rücke von ihm ab. Seine Miene wird wieder weicher. „Geht es wieder einigermaßen?" Ich nicke leicht lächelnd. „Okay, dann gehe ich mal meinen Rucksack und die anderen holen." Damit steht er auf und lässt mich allein. Fast sofort kehren meine Sorgen zurück. Ich schließe die Augen und versuche sie in den hintersten Winkel meines Gehirns zu verbannen. Ich sage mir, dass Noel nicht weit weg ist, er ist nur zur Tür raus gegangen. „So da bin ich wieder." Ich lächle ihn an, doch das Lächeln schwindet, als Rose und Daniel hinter ihm zum Vorschein kommen. „Rose, Daniel. Es tut mir so leid, was ich getan habe. Wirklich." Rose lässt sich grinsend neben mir nieder, Daniel fest an der Hand. „Schon gut, Noel hat's uns erklärt. Eigentlich kannst du ja nichts dafür." Noel hat also nicht gelogen, was das angeht. „Danke." Daniel verdreht die Augen. „Wofür denn? Du bist unsere Freundin. Egal, was du getan hast. Außerdem hast du ja damit nur einen von uns beschützt." Oh wow. Sie denken alle besser von mir als ich selbst. Vielleicht kann ich es dann auch glauben, wenn alle anderen davon überzeugt sind. Noel drückt mir etwas in die Hand. Eine Flasche Wasser und ein Stück Brot. Ich lächle ihn noch einmal dankbar an, ehe ich mich darüber her mache. Auf Noels Gesicht liegt ein zufriedenes Grinsen. „Warum grinst du so?" Sein Blick wandert zu mir. „Ich habe es geschafft, dass du mir glaubst. Und darauf bin ich ziemlich stolz." Ich verdrehe die Augen. „Na, wenn das dein einziges Problem war." Er geht nicht auf den Scherz ein und sieht mich weiter unverwandt an. „War es nicht, aber es war das dringendste." Ich nicke und damit ist das Thema beendet. „Wer ist eigentlich noch übrig? Von den anderen Tributen, meine ich." Die Frage kommt von Daniel. „Jake aus meinem Distrikt und Perry aus sieben." Das lässt uns alle still werden. „Wir sind nur noch sechs Tribute. Und vier davon sind wir." Rose spricht nicht weiter, aber jeder von uns weiß, was sie sagen will. Was machen wir, wenn außer uns keiner mehr da ist? Töten kann ich sie auf keinen Fall. Vielleicht können wir uns trennen. Ich hoffe, dass Noel mit mir gehen würde. Nur noch zwei Gegner. Und einer davon hat es gezielt auf mich abgesehen. Alle meine Hoffnungen sind vergeblich gewesen. Jake hat überlebt. Und wenn nicht noch ein Wunder passiert, werde ich mich ihm früher oder später stellen müssen. „Ruby?" Noels Stimme schreckt mich aus meinen Gedanken. Sie klingt, als hätte er meinen Namen nicht zum ersten Mal gesagt. „Was ist?" Noel schüttelt belustigt den Kopf. „Wo warst du denn? Ich habe gesagt, dass du schlafen solltest." Ich schüttle den Kopf. „Wenn ich jetzt schlafe, bekomme ich nur wieder Albträume. Da kann ich es auch gleich lassen." Noel drückt mir eine Decke in die Hand. „Versuch es. Ich bleibe hier und passe auf dich auf." Ich lächle ihn an. Natürlich weiß er, dass meine Albträume nicht von meinem Tod handeln. Trotzdem sagt er es. Ich lege mich so auf den Boden, dass ich Noel sofort sehe, sollte ich meine Augen aufmachen. Damit ich mich im Falle eines Albtraum vergewissern kann, dass er nicht wahr ist. Dann übermannt mich meine Müdigkeit und ich gleite in den Schlaf. Das letzte was ich mitbekomme, ist eine Hand in meiner, die den gerade aufkommenden Albtraum verscheucht. Dann schlafe ich traumlos ein.

 Dann schlafe ich traumlos ein

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Ruby Shine - Die 18. HungerspieleWhere stories live. Discover now