31 Siegertour Distrikt 10 & 9

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Verschlafen drehe ich mich auf die andere Seite. Dann öffne ich meine Augen einen Spalt. Ich bin nicht allein. Ich reiße meine Augen überrascht auf. „Helen!", quietsche ich. Oh mein Gott. Das ist jetzt nicht wirklich passiert oder? Kann sich der Boden bitte erbarmen und ein Loch öffnen in dem ich verschwinden kann? Glücklicherweise ignoriert sie mein Quietschen einfach. „Ruby, ich muss mit dir reden." Ich setze mich auf und verschränke die Arme vor der Brust. „Wirst du mir verraten, was du mir verheimlichst?" Sie schüttelt den Kopf. „Nein, das kann ich nicht. Versteh doch. Ich will es ja tun, aber damit bringe ich dich in Gefahr. Jeder, der von mir davon erfährt, stirbt." Mir klappt der Mund auf. So ernst ist ihr Geheimnis? Helen wartet anscheinend darauf, dass ich etwas sage, aber das kann ich nicht. Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. „Ruby, es tut mir wirklich leid. Kannst du mir verzeihen? Ich weiß, dass dir die Tour zu schaffen macht. Ich will dir helfen." Ich sehe Helen einen Moment schweigend an. „Ich weiß nicht genau, ob ich dir verzeihen kann. Aber ich kann es versuchen." Helen grinst mich an, anscheinend reicht es ihr, wenn ich es versuche. Dann umarmt sie mich. „Danke, Ruby." Ich lächle auch, aber nur leicht und sehen kann sie es auch nicht. Dann löst sie sich wieder von mir. „So und jetzt musst du mitkommen. Gwen wartet schon auf dich mit dem nächsten Kleid. Ich persönlich fand ja die letzten beiden besser." Ich krabble aus dem Bett und folge ihr in den anderen Waggon. Und wirklich wartet Gwen schon dort, aber nicht nur sie auch die drei anderen laufen schon geschäftig durch die Gegend. Das Kleid hängt schon da. Diesmal ist es ein rotes, knielang und aus einem Stoff, von dem ich glaube, dass es Chiffon ist. Sicher bin ich mir aber nicht. Daneben stehen weiße Schuhe, höher als die vorhergehenden, aber immer noch nicht so hoch wie im Kapitol. Kaum habe ich mich auf den Stuhl gesetzt, macht sich mein Vorbereitungsteam auch schon an die Arbeit. Es scheint, als würden sie die schwarze Schminke an meinen Augen mit jedem Distrikt steigern. Klar, so heben sie meine Augen hervor, aber zu viel ist einfach nicht gut. Zum ersten Mal probieren sie eine etwas aufwendigere Frisur aus. Sie flechten meine Haare quer über den Kopf und lassen einige kleine Strähnen vorne und seitlich frei. Während sie an mir herumwerkeln, nicke ich kurz ein. „Ruby, wach auf. Du musst das Kleid anziehen." Ich nicke schläfrig und stehe auf. Dann bin ich endlich fertig und wir stehen wieder mal wartend vor der Türe. Ich weiß nicht, ob man sich daran gewöhnen kann. Die Türe schwingt auf. Und eine Menge jubelnder Menschen kommt zum Vorschein. Alle mit undurchdringlichen Mienen. Ich kann darin keine Gefühle erkennen, keine Reaktionen. Es wirkt komisch, als würde sich über alle Gesichter eine dünne Schicht Eis ziehen, unter dessen Oberfläche es brodelt. Ich weiß nur nicht was. Verwirrt gehe ich auf den Bürgermeister zu und den hiesigen Sieger, Tyler. Er ist nicht viel älter als ich, höchstens zwei Jahre. Als wir auf die Bühne geführt werden, geht er nahe neben mir und flüstert mir etwas zu. „Hallo, Ruby. Ich habe gespannt darauf gewartet, dir endlich mal persönlich zu begegnen. Ich hoffe, du bist kein typischer Karriero." Ich zwinkere ihm zu. „Keine Sorge. Bin ich nicht. Ich denke keineswegs, dass ich besser bin als irgendjemand hier." Dann senke ich meine Stimme noch weiter. „Außer man berücksichtigt die Leute vom Kapitol, die hier sind." Tyler grinst breit, ich weiß gar nicht, warum er das so witzig findet. „Viel Glück da oben Ruby." Ich lächle ihm noch einmal kurz zu, dann wende ich mich dem Mikrofon zu. Diesmal trage ich wieder die erste Rede vor. Dabei verbanne ich sämtliche Gefühlsregungen aus meiner Stimme, um meinen Fehler in Distrikt 11 wieder gut zu machen. Und wieder suche ich in der Menge nach Familien. Nach einem bekannten Gesicht. Denn Samuel ist Daniels Zwillingsbruder. Eineiige Zwillinge. Da ist er. Er steht etwas abseits von den anderen vier, die seine und Mirandas Eltern sein müssen. Dieselben braunen Augen und auch die gleichen schwarzen Haare. Derselbe dunkle Teint. Er sieht aus wie eine exakte Kopie von Daniel, einige harte Monate älter. Seine Miene ist hart und fast schon wütend. Das könnte noch ein Problem werden. Wie soll ich ihn überzeugen? Vermutlich wird er mir nicht mal zuhören. Schnell beende ich die Rede und drehe mich um. Tyler kommt schon wieder zu mir. „Ist ganz witzig, wie du um jede potenziell gefährliche Aussage einen weiten Bogen machst." Ich lächle ihm kurz zu, doch auf einmal sieht er nicht mehr mich an. Er starrt auf etwas hinter mir. Oder eher auf jemanden. Helen. „Ruby, wer ist denn das?" Er deutet auf Helen. Ich lächle. „Das ist meine beste Freundin. Sie heißt Helen. Ich glaube, du solltest mal mit ihr reden." Er sieht mich noch immer nicht an. „Ist sie auch eine Siegerin? Ich kann mich gar nicht mehr an alle erinnern." Ich nicke. „Ja. 15. Hungerspiele." Er wirft mir einen überraschten Blick zu. „Das waren ja die Spiele nach meinen. Denkst du wirklich, dass sie mit mir reden will?" Ich grinse ihm zu. „Wirst du nie erfahren, wenn du es nicht versuchst." Er nickt mir zu und gesellt sich zu Helen. Was ich nicht bedacht habe, ist, dass ich jetzt alleine bin. Tja, vielleicht findet ja wenigstens Helen jemanden, wenn ich schon kein Glück habe. Sie lächelt die ganze Zeit, als Tyler mit ihr redet. Ich habe dann das Pech, dass der Bürgermeister bemerkt, dass ich alleine bin und das als Zeichen nimmt, dass er mich volllabern darf. Ehrlich, wen interessiert denn, ob er jetzt einen neuen Anzug gekauft hat, nachdem er einige Monate darauf gespart hat? Soll er doch kaufen, was er will. Zu meinem großen Entsetzen schafft er es auch noch, bei dem Fest direkt neben mir zu sitzen. Nach einiger Zeit, die mir wie Stunden erscheint, stehe ich auf. Als er mich fragt, was ich mache, antworte ich: „Entschuldigen Sie mich bitte kurz. Ich bin gleich wieder da." Mit einem gespielt entschuldigenden Lächeln mache ich mich aus dem Staub. Helen redet immer noch mit Tyler, sie kichert immer wieder und er grinst breit. Na, da haben sich ja zwei gefunden. Ich husche schnell an den Friedenswächtern vorbei und durch die Türe. Dann sehe ich mich um. Wie soll ich Samuel hier finden? „Was machst du da?", fragt eine unfreundliche Stimme aus der Dunkelheit. Habe ich ihn etwa schon gefunden? Ich drehe mich um und tatsächlich steht da Samuel vor mir und betrachtet mich mit finsterer Miene. „Ich suche dich." Er verengt die Augen. „Warum suchst du mich? Willst du mich auch anlügen, so wie Daniel? Hast du nicht schon genug angerichtet?" Ich schüttle den Kopf. „Vielleicht habe ich gelogen, aber nicht Daniel gegenüber. Ich habe ihn wirklich als Freund betrachtet, genau wie Rose und anfangs auch Noel. Gelogen habe ich nur im Interview." Er geht einen Schritt auf mich zu. „Und das soll ich dir glauben? Ich denke, du hast ihnen allen was vorgemacht. Du hast diesen Noel gar nicht geliebt." Okay, ich weiß, ich sollte ihn mit ruhigen Argumenten überzeugen und so. Aber er hat mich am falschen Fuß erwischt. „Rede nicht von mir, als würdest du mich kennen. Als ich erfahren habe, dass Noel tot ist, wollte ich auch sterben. Unterstelle mir nicht, dass ich ihn nicht geliebt habe.", zische ich wutentbrannt. Samuel weicht überrascht von meiner offensichtlichen Wut einen Schritt zurück. „Du...du sagst die Wahrheit.", stottert er ungläubig. Ich hole tief Luft, um mich zu beruhigen. „Ja, ich bin nur hier, also hier draußen, weil ich Daniel helfen will und der einzige Weg dafür ist, seiner Familie zu helfen." Er schüttelt langsam den Kopf, als könnte er mir nicht richtig glauben. „Wie willst du das denn anstellen?" Ich ziehe den Brief hervor und halte ihn Samuel unter die Nase. „Was ist das?" Ich halte ihm den Brief weiterhin hin. „Ein Brief, in dem die Wahrheit drin steht und etwas Geld. Weil ich zu viel habe und ihr nicht immer genug." Samuel reißt die Augen auf. „Du gibst uns Geld? Warum?" Ich zucke mit den Schultern. „Ich brauche es nicht. Ich habe vor den Spielen schon mehr Geld besessen, als ich gebraucht habe und jetzt ist es noch mehr. Ihr braucht es dringender als ich. Logische Konsequenz: Ich gebe euch etwas von meinem Geld." Er sieht mich verblüfft an. „Vielleicht habe ich mich ja doch in dir geirrt. Warte mal. Du hast Daniel doch mal gerettet, oder?" Ich nicke. „Ja, habe ich. Ich hätte es auch noch mal versucht, wäre diese verfluchte Glasplatte nicht gewesen." Er nickt kurz. „Okay, gib das Ding her." Ich reiche ihm den Brief und er nimmt ihn entgegen. „Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder." Ich lache kurz auf. „Nimmst du es mir übel, wenn ich hoffe, dass wir uns so bald nicht wiedersehen? Denn ich befürchte, das würde bedeuten, dass du Tribut bist." Er nickt nachdenklich. „Hm, du hast Recht. Tja, dann leb wohl, Ruby. Und, danke, schätze ich." Ich grinse ihm zu und er lächelt zaghaft zurück, bevor er, genau wie Alisha und Katelyn vor ihm, verschwindet. Ich schleiche mich schnell wieder zurück ins Justizgebäude und setze mich schweren Herzens wieder auf meinen Platz neben dem Bürgermeister. Und als wäre ich gar nicht weggewesen, plappert er wieder ohne Punkt und Komma über total uninteressante Dinge. Ich nicke einfach nur und versuche Interesse zu heucheln. Er ist sowieso zu sehr in Fahrt als dass er noch irgendetwas mitbekommen hätte. Erst, als Helen sagt, dass wir gehen, scheint er enttäuscht zu sein. Wahrscheinlich laufen alle anderen nach wenigen Minuten davon, nur um seinem Redeschwall zu entkommen. Kaum sind wir einige Meter von ihm weg, beuge ich mich zu Helen rüber. „Ein Glück bist du da. Ich wäre bald eingeschlafen. Oder schreiend weggerannt. Eines von beiden." Helen kichert. Ich sehe sie genauer an. Auf ihrem Gesicht liegt ein breites Dauergrinsen, ihre Wangen sind leicht rot und ihre Augen leuchten. Ich grinse sie an. „Du magst ihn, nicht wahr? Tyler?" Helen wirft mir einen überraschten Blick zu. „Ist das so offensichtlich?" Ich nicke, immer noch grinsend. „Also, für mich schon. Ich weiß, aber auch, dass er dich auch mag." Helen grinst selig vor sich hin. „Und ist das okay für dich?" Ich schaue Helen verwundert an. „Warum sollte das für mich nicht in Ordnung sein?" Helen wirft mir einen unbehaglichen Blick zu. „Naja, du weißt schon. Kannst du es ertragen?" Ach darum geht es. Noel. Mein Grinsen schwindet. Ich nicke Helen zu. Warum muss sie mich auch schon wieder daran erinnern? Meine Gedanken drohen wieder abzuschweifen. „Oh, Ruby. Verdammt, das tut mir leid. Ruby? Geht es dir gut?" Ich schüttle stumm den Kopf. Wie sollte ich auch lügen? „Komm, gleich sind wir im Zug." Ich nicke wieder. Meine fröhliche Stimmung ist wie weggeblasen. Ich blende meine Umgebung größten teils aus. Irgendwie komme ich in mein Bett, wo ich wieder etwas auftauche. „Helen. Warum kann ich ihn denn nicht einfach vergessen?", flüstere ich. Helen wirft mir einen traurigen Blick zu. „So einfach ist es leider nicht. Liebe kann und sowohl retten, als auch zerstören. Du darfst dich einfach nicht zerstören lassen, egal, wie schwer es ist." Ich schließe meine Augen. „Aber es ist so schwer. Ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann." Als Helen meine Hand nimmt, öffne ich meine Augen wieder. „Du schaffst es. Du bist die stärkste Person, die ich jemals kennengelernt habe. Wenn du es nicht schaffst, dann schafft es keiner." Ich lache kurz auf. „Danke. Ehrlich." Helen lächelt mir zu. „Kein Problem. Ich glaube, du solltest dich noch umziehen, bevor du schlafen gehst." Ich nicke und Helen steht auf und verlässt den Raum. So schnell ich kann wasche ich die Schminke aus meinem Gesicht, dusche kurz und ziehe dann bequeme Hosen und ein weites T-Shirt an. Beides grau. Dann krieche ich zurück in mein Bett und beginne zu träumen. Natürlich, wie sollte es auch anders sein, handeln alle meine Träume von Noel. Helen weckt mich auch am nächsten Tag. „Ruby, geht es dir gut?" Ich sehe sie verwirrt an. „Was meinst du?" Helen deutet auf mein Gesicht. „Du hast geweint." Ich berühre mit der Hand meine Wange. Sie ist nass. Ich muss wohl im Schlaf geweint haben. Ich nicke Helen zu. „Es geht. Die schlimmeren Distrikte habe ich ja schon alle geschafft." Helen steht auf. „Na dann komm. Je schneller du dort bist, desto schneller haben wir Distrikt 9 hinter uns und dann auch bald die gesamte Tour." Ich folge ihr schnell den inzwischen gewohnten Weg zum Stylistenwaggon. Gwen präsentiert mir stolz ein orangefarbenes Kleid. Es ist unglaublich kurz, auf der einen Seite trägerlos, auf der anderen einen weiten Ärmel, der beinahe bis zum Ellbogen reicht. Dann hat sie noch einen Gürtel dabei liegen. Meine Schminke ist heute nicht nur schwarz, sondern auch ein bisschen grün. Meine Haare sind wieder mal offen. Ich denke an die Tribute von Distrikt 9. Morgan ist von Edy getötet worden, Ally habe ich umgebracht. Beide an Tag eins. Der Tag fliegt an mir vorbei. Eine weitere Rede, ein anderer Bürgermeister, Maddie, einzige Siegerin von Distrikt 9, dann das Fest und zurück in den Zug. „Helen?" Sie sieht mich neugierig an. „Hm?" Ich überlege kurz. „Wie war die Tour für dich?" Sie scheint nachzudenken. „Nicht so schlimm wie für dich offensichtlich. Aber einfach war es auch nicht. Als ich wieder zu Hause war, hätte ich mich fast in meinem Haus verkrochen und wäre nicht mehr rausgekommen. Bis ich mich mit dir angefreundet habe." Ich lächle. Ich habe für Helen das getan, was sie für mich nicht tun kann. Dann wünschen wir uns eine gute Nacht und verschwinden jeder in seinem Abteil. Und ein weiterer Tag der scheinbar endlosen Tour ist geschafft.

Ruby Shine - Die 18. HungerspieleWhere stories live. Discover now