Der Spiegel

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Manchmal fragte sich Franziska Jung, was sie genau falsch machte. Ob es ihr Job war, der sie mehr als nur 100 Prozent forderte oder ob es ihre Familie war, die sie nur selten zu Gesicht bekam, da sich Philipp und sie getrennt hatten. Die Trennung saß immer noch tief, sehr tief in ihrem Herzen. Es lief alles aus dem Ruder, wie sie es selbst so schön nannte. Von ihren Eltern bekam sie auch keine Unterstützung, sie verbrachten  ihre Letzen Jahre auf dem großen, weiten Ozean um selbst die entlegensten Orte, der Erde zu entdecken. War sie ihren Eltern egal geworden in all den Jahren? Liebten sie sie nicht mehr? Hatte sie wirklich so viel falsch gemacht, dass schon ihre Eltern sie nicht mehr sehen wollten? Wenn sie abends nach der Arbeit allein auf der großen Terrasse ihres Hauses saß und sie nur daran dachte, hatte sie goldglänzende Tränen in den Augen, die ihre Wangen herunterflossen. In den letzten Jahren ist so viel falsch gelaufen, eine richtige Pechsträhne in der sie sich verfangen hatte. Alle Wege hinaus zu finden, machten alles nur noch schlimmer. Alles. Da es alles ja nicht so schlimm war, bekam sie eine Diagnose, die sie endgültig zerbrechen ließ und ihr Leben für immer verändern wird.    

Für gewöhnlich zog sich Franzi nicht vor dem kleinen Waschbecken in der Frauenumkleide um. Ihre Gründe waren ihre dünne Figur und ihr schreckliches aussehen. Sie wollte nicht gesehen werden, von niemand, nicht einmal ihre engsten Kollegen durften sie sehen,  weshalb sie oft früher oder später zum Dienst kam. Doch heute war eine Ausnahme. Sie wusste zu gut, dass in den nächsten Minuten Melanie durch den weißen Umhang schlüpfen würde und ihr ein fröhliches „Guten Morgen" wünschen wird. Um nicht ganz nackig dazustehen zog sie sich schnell ihr Diensthemd an und köpfte es zu. Sie sah ständig auf die Uhr, so als würde sie auf irgendetwas warten, dabei wollte sie nur schnell fertig sein um ihren Kollegen nicht direkt in die Arme laufen zu müssen.

Von weiten hörte sie schon die hohen Absätze von Melanie, ihrer eigentlich doch besten Freundin. Jeder, der an ihr vorbeilief oder nur an seinem Arbeitsplatz begrüßte sie mit solch einem Elan, sodass die Kollegen sie nur anstarren konnten und zu sehen mussten wie sie immer weiter in Richtung Umkleide verschwand.  Sie war wie ein großer Orkan, der nur kurz auftauchte um dann weiterzuziehen.

Franzi zählte die Sekunden bis Melanie den weißen Vorhang aufmachte und sie hindurchschlüpfte. Sie fing bei 30 Sekunden an und zählte und zählte bis sie bei der Sekunde zehn war. Während sie zählte vergaß sie alles um sich herum, sie konzentrierte sich nur auf das Zählen. 10,9,8,7,6,5,4,3,2,1.  „ Guten Morgen Franzi", flötete Melanie ihr in der Sekunde null entgegen. „Morgen, Melanie", antwortete Franzi irgendwie abweisend.  Sie war nicht ganz bei sich, schon den ganzen Morgen bemerkte sie wie sich immer schlapper, müder fühlte. So etwas kannte sie nicht von sich. Sie ging jeden Tag pünktlich ins Bett, stand pünktlich auf, sie aß sogar ein halbes Brötchen mit Erdbeermarmelade bevor sie aus dem Haus ging und schwang sich dann auf ihr kleines rotes Fahrrad, mit dem sie zur Arbeit fuhr. „Franzi ist alles in Ordnung bei dir du sieht so blass und schläfrig aus?", fragte Melanie besorgt. Ihr Gesicht spiegelte ihre Besorgnis eins zu eins wieder„ Ich weiß nicht, ich fühle mich seit heute Morgen komisch, aber es ist alles okay bei mir", antwortete Franziska Jung betrübt auf die eingehende Frage ihrer blonden Kollegin. „Ist wirklich alles in Ordnung bei dir, Franzi?", hackte Melanie noch einmal nach. Franzi überlegte kurz was sie darauf antworten sollte. Sie kam zu dem Entschluss sich einfach wegzudrehen von Melanie und sich weiter umzuziehen. Hans wartete bestimmt schon ungeduldig auf sie. So war er halt. Aber was wird er sagen zu ihr? Wird er sie auch fragen, was mit ihr los sei? Und was sollte sie darauf antworten? Irgendwann, irgendwann das wusste sie jetzt schon wusste es das ganze PK 21 was mit ihr los war. Es machte ihr irgendwie Angst. Angst, dass sie vielleicht nie wieder normal mit ihren Kollegen reden konnte, dass sie todkrank war oder ,dass sie einen Unfall hatte, der sie lähmte, für immer. Aber waren die Ängste nicht zu überwinden, denn ihre Kollegen hier waren auch ihre Freunde, die einzigen die sie hatte und wenn sie sie belog würde sie dann nicht alle verlieren?

Schnell wischte sie diesen Gedanken weg in dem sie sich weiter umzog. Als sie fertig war, sah sie Melanie sehr traurig an. Sie hatte keine Ahnung wie sie es gut machen konnte, deswegen ging sie zu ihren Arbeitsplatz, nachdem sie ihr blaues Schließfach, der mit Bildern ihrer Kinder vollgeklebt war zu schloss.  

Wie gefällt euch das erste Kapitel, ich freue mich über viele Reviews?

Notruf Hafenkante - Die DiagnoseWhere stories live. Discover now