***
„Wahre Schönheit weiß nichts von ihrer Schönheit." – Michael Wollmann
***
Entweder ich schien mich noch nicht an das Wetter hier in Braxton gewöhnt zu haben, oder die stetige Verspätung von Koffein in meiner Blutbahn wegen des Fehlens einer Kaffeemaschine machte sich langsam durch Kopfschmerzen bemerkbar. Beides waren zwei nicht außer Acht zu lassende Gründe, doch letzteres war definitiv wahrscheinlicher. Ich hatte Veränderungen noch nie toll gefunden und mit der Zeit reagierte mein Körper so empfindlich auf jede winzige Abweichung meines Tagesrhythmus', dass es fast schon an ein Wunder grenzte, dass ich nach meinem Umzug noch nicht weggesackt war. Bis jetzt war jedoch von einer Veränderung nichts zu spüren gewesen. Außer eben der Verzögerung meiner täglichen Dosis Koffein, die sich nicht gerade positiv auswirkte.
Eigentlich ging es mir, seit ich in Braxton war, nicht wirklich großartig. Das schlechte Gewissen begann sich in meine Gedanken einzunisten, es regnete fast ununterbrochen, die Kopfschmerzen hielten an und ich hatte das Gefühl, meine Werte würden sich nicht bessern. An meinen Beinen zeichneten sich blaue Flecken ab, mein Gesicht wirkte müde und schlaff und zu guter Letzt hatte ich mich dem Fingernagelkauen hingegeben, was dazu führte, dass meine Hände aussahen, als hätte ich sie für einen Moment in den Mixer gegeben; hauptsächlich eingetrocknetes Blut an den Nagelwurzeln und ab und zu wieder ein Hämatom.
Was hatte ich denn nach dreitägigem Aufenthalt erwartet? Dass ein Wunder passierte und ich wie durch Zufall plötzlich von meiner Krankheit befreit werden würde? Langsam wusste ich selbst nicht mehr, warum ich dies oder jenes machte, so wie ich jetzt vor dem Spiegel stand. Die Reflexionen reichten zwar nur bis zu meinen Schultern, doch ich konnte mir gut genug vorstellen, wie mein restlicher Körper aussah.
Manche hätten gesagt, ich betreibe zu wenig Sport. Ich schob es auf meine Krankheit, obwohl mein Gewicht sicher von beidem beeinflusst wurde. Ich war noch nie wirklich eine Sportskanone gewesen, dadurch hatten sich sicher schon ein paar Pfund angesammelt, doch mit dieser Erkrankung kam die Vorsicht bei jeder anstrengenden Tätigkeit hinzu. Und ich musste Medikamente nehmen, bei denen sich herausgestellt hatte, dass sie Müdigkeit und Wassereinlagerungen bei mir hervorriefen. Beides keine guten Voraussetzungen, um zu trainieren. Es war ein Teufelskreis, der mich in Dauerdepressionen beförderte.
Die matten, braunen Augen, die mich anstarrten, verrieten mir, dass ich nun an einem solchen Tiefpunkt angelangt war. Ich war frustriert, wollte wie so oft schon nicht aus dem Haus. Aber ich musste wohl oder übel. Immerhin würde ich sonst meinen Kaffee nicht bekommen, und ich hatte keine Lust herauszufinden, was dann geschehen würde. Mürrisch und schlecht gelaunt ging ich zu meinem Bett und kramte mein Handy hervor.
Gestern Abend erhielt ich von Elena noch eine Nachricht, doch ich hatte zu viel Angst davor, was sie beinhaltete, also hatte ich mein Telefon ausgemacht. Bis jetzt konnte ich es nicht wieder einschalten. Aber ich brauchte etwas Aufbauendes. Ich brauchte das Gefühl, irgendeine Person auf diesem Erdball würde mich vermissen, und deswegen riskierte ich einen Blick auf den anscheinend ellenlangen Text, den mir meine Schwester geschrieben hatte.
SMS von Elena um 7:34 pm:
Ich sitze seit ungefähr einer halben Stunde vor meinem Handy und weiß nicht, was ich sagen oder schreiben soll. Dr. Hobbs hat mich nach deinem Anruf bei ihm mehrmals versucht zu erreichen, doch wie es der Zufall so wollte, hatte ich heute mein Handy zu Hause liegen lassen und war deswegen noch ganz unwissend nach der Arbeit zurück in die Wohnung gekommen. Als ich dann seine Sprachnachricht angehört habe, war ich auf der einen Seite furchtbar glücklich. Ich dachte schon, dir wäre etwas Schlimmes widerfahren. Du hast mir mit deiner Aktion einen solchen Schrecken eingejagt, das kannst du dir nicht vorstellen. Es war so schön, zu wissen, dass es dir gut geht. Meine Güte, Ben! Dass du lebst!
DU LIEST GERADE
Perception - Wie siehst du die Welt?
General FictionBen nimmt seine Welt schon lange nicht mehr so wahr wie früher. Sie scheint für ihn nur noch eine weitentfernte Illusion zu sein, die er sich sehnsüchtig wieder zurückwünscht. Der Grund dafür ist ein schweres Laster, das er seit einiger Zeit mit sic...