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ELLE

»Da sind die beiden ja!«, rief Carlo erfreut und sah in unsere Richtung. Das Herz schlug mir bis zum Hals und der Arm um meinen Rücken war präsenter denn je. Seine Berührungen fühlten sich wie Messerstiche an, die ich durch den Stoff der Kleidung auf meiner Haut spürte. Ich konnte ihm nicht entfliehen, selbst wenn ich wollte, es waren zu viele Menschen hier und ich musste tun, was sie mir sagten, sonst brachte ich nicht nur mich, sondern auch meine Eltern in Gefahr. Das konnte ich nicht riskieren.
Im Foyer der Villa hielten sich drei unbekannte Männer, eine Frau und Carlo auf. Sie erwarteten uns bereits, als wir die Treppe hinunterliefen. Mit jeder weiteren Stufe wurde mir übler, was nicht nur an der Tatsache lag, dass mein Kopf noch brummte wie ein Dieselmotor, sondern auch daran, dass ich Angst hatte, es zu vermasseln. Carlos Blick verdeutlichte mir nur, dass er böses tun würde, sollte ich es tatsächlich vermasseln. Das erhöhte den Druck auf mich nur noch mehr.

»Tante Martha«, es war Leano der seine Stimme erhob und am Fuße der langen Treppe von mir abließ, um auf die Frau mittleren Alters zuzugehen und ihr Küsschen auf die Wange zu drücken. »È un piacere vederti«, lachte sie mit herzlich und schloss ihn in ihre Arme, obwohl er einen ganzen Kopf größer als sie war. »Allo stesso modo, zia«, erwiderte er und ein klangvoller Ton entwischte seiner Kehle. War das etwa ein Lachen? Ich versuchte mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Vorhin war er noch so Griesgrämig und nun ... lachte er. Skurril.
»Hey«, holte mich eine Stimme aus meinen Gedanken und ließ mich aufschrecken. Mein Herz machte einen erschrockenen Sprung als ich den hübschen jungen Mann neben mir entdeckte, der mir ein charmantes Grinsen zuwarf. Auch er überragte mich mühelos, doch im Gegensatz zu Leano, schaute er um Längen freundlicher. »Mein Name ist Diego«, stellte er sich vor und drückte mir zwei Küsschen auf die Wange. Überrumpelt stolperte ich die letzte Treppenstufe hinab und fiel direkt in seine Arme. Der gebräunte südländer kommentierte dies mit einem Schmunzeln. »Stürmisch, das mag ich.«
»Diego, hab ein bisschen Respekt vor der Verlobten deines Cousins.« Ein anderer trat neben ihn, sie sahen sich ähnlich. Beide braune, fast schwarze Haare, die gleichen Gesichtszüge und doch unterschiedliche Augenfarben, an denen ich sie unterscheiden konnte. »Mein Name ist Christiano, aber du darfst mich gern Chris nennen«, bot er an und küsste meinen Handrücken mit seinen warmen, weichen Lippen. Wow, die beiden waren so anders als Carlo und Leano. Viel herzlicher.

Hinter den beiden tauchte nun auch noch ein Mann auf, der wesentlich älter war und strengere Züge besaß. »Ich entschuldige mich vielmals für meine Söhne, die beiden sind noch etwas kindisch«, sprach er zu mir und drängte sich zwischen den beiden hindurch, um mir höflicherweise die Hand zu schütteln. Die Proteste der beiden -Brüder nahm ich an- ignorierte er vollends, als sei er es nicht anders gewohnt. »Wenn ich mich vorstellen darf, ich bin Massimo, Carlos Bruder. Freut mich sehr.«
Carlos was? Perplex weiteten sich meine Augen als mir auffiel, dass sie sich tatsächlich in gewisser Weise ähnlich sahen. »Freut mich, mein Name ist Elle«, sagte ich schnell, um die Situation nicht noch merkwürdiger zu machen. Ich zwang mir ein Lächeln auf und hoffte, dass es halbwegs ehrlich aussah.
»Ihr überfordert sie, Jungs«, mischte sich die dunkelhaarige Frau ein und trat in mein Sichtfeld. Noch eben hatte sie sich mit Leano unterhalten, nun schloss sie mich in eine herzliche Umarmung. »Martha, freut mich dich kennenzulernen«, stellte sie sich mit italienischem Akzent vor, der sie nur noch sympathischer machte. Sie schien ihre Worte wirklich so zu meinen und nicht nur zu sagen. Die vier waren gute Menschen, das wusste ich bereits jetzt. Ich wünschte, sie könnten mir helfen. Angesichts der Tatsache das sie mit Carlo verwand waren, würde diese Aktion aber wohl im Sand verlaufen.

Carlos Händeklatschen ließ mich zusammenzucken, was mir einen komischen Blick von Diego beschaffte, den ich schluckend ignorierte und meine Aufmerksamkeit dem grimmigen Italiener widmete. »So, jetzt aber genug geredet, Rosa hat gekocht. Wir wollen doch nicht, dass es kalt wird«, warf er ein und alle stimmten zu. Während Carlo die Gäste zum Tisch führte, wartete ich auf Leano, bevor ich ihnen folgte. »Sie wissen nicht, dass du nicht freiwillig hier bist, also versau es nicht«, drohte er mir raunend. Vielleicht hatte Rosa falsch gelegen als sie gesagt hatte, Leano sei nicht so wie sein Vater, denn bis jetzt war er genau wie er. Ich ließ mir wortlos einen Stuhl von ihm zurechtrücken, bevor ich mich darauf niederließ und er sich neben mich setzte. Rosa hatte den Tisch hübsch eingedeckt und sogar Blumen auf der weißen Tischdecke platziert.
»Es tut uns leid das Jules nicht mit hier sein kann. Seit sie diesen Freund hat, ist sie ständig bei ihm«, entschuldigte Martha sich. Jules?
»Schon in Ordnung Martha, es wird sicher noch genug Gelegenheiten geben, in denen sie mitkommen kann« sagte Carlo und nahm einen Schluck Wein aus seinem Glas. Auch mir wurde eines vor die Nase gesetzt. Ich starrte einen Moment auf die dunkelrote Flüssigkeit, während das Gespräch am Tisch weiterging, ohne dass ich ihnen weiter Beachtung schenkte. Meine Gedanken drifteten ganz woanders hin. Ich kannte keinen dieser Menschen und versuchte inständig mir nicht vorzustellen, was sie mit meiner Familie tun würden, sobald ich einen Fehler beging. Ich hatte Angst vor diesem Gedanken.

she's only mine ✓Where stories live. Discover now