#56 "Es waren immer sie und der Gehstock."

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Jimin POV

Ich wusste nicht wieviel Zeit vergangen war und es interessierte mich auch nicht.
Mein Herz wurde rausgerissen, es wurde draufgetrampelt und irgendwo liegen gelassen.
Heute musste ich mich aufrappeln und mich nach draußen bewegen.
Heute war die Vorstellung.
Ich brauchte gefühlte zwei Stunden um richtig aufzustehen, ohne wieder schwach zu werden und aufs Bett zu fallen.
Ich stand mich im Spiegel gegenüber und sah die Person gegenüber von mir an.
Er war unrasiert, fast abgemagert, die kleinen Speckwangen waren verschwunden, übrig blieben nur noch markante Wangenknochen.
Das riesige Pflaster klebte immer noch an seiner Wange.
Wäre Choa da nicht um sie jeden Tag zu desinfizieren, wäre sie sofort infiziert worden.
Ich strich die Wunde entlang.
Die Wunde an sich tat nicht mehr weh, aber die Erinnerung dran ist grausam.
Seine Haut war blass wie die einer Leiche, seine Haare standen an alle Seiten ab.
Ich atmete aus und zwang mich mich umzuziehen.
In der Küche angekommen stand ein Tablett da.
"Ich komme später zur Aufführung mit Dad! Überraschenderweise war er der erste der Karten ergattert hat. Bis dann! Iss das alles auf, ja? Wenn nicht zwing ich dich zu einem VIXX Konzert! :P Und wehe ich sehe die Sachen später im Müll rumliegen. Viel Glück! -C."
Stand auf der Karte.
Eine Nudelsuppe, Orangensaft, ein Tee, ein Stück Kuchen.
Als ich das Stück sah, schmerzte es mich im Herzen.
Ich dachte daran als ich Vivien, wie Choa, geschlagen hatte. Beide. Direkt ins Gesicht.
Zögernd zwang ich mich alles Stück für Stück zu verspeisen. Als Letztes kam der Kuchen.
Er schmeckte nach ihren üblichen leckeren Kuchen.
Sie fehlte mir. Sie alle. Baekhyun, Vi, ... Jenna.
Während ich das Stück aß, kamen mir Tränen.
Lustig vorzustellen oder? Normalerweise würde man einen Kuchen mit einem Lachen oder Lächeln verspeisen, weil man sich freut und Gutes fühlt.
Doch ich fühlte mich wie die schlechteste Person. Ich hatte dieses Stück nicht verdient.

Später im Theater angekommen, sah ich nirgendwo Baekhyun oder Vivien.
Ms. Wang sprach auch nur noch monoton mit mir und nur das was nötig war.
Ich meine, ich hätte es verdient.
Sie behandelte mich nur so weil sie es musste. Als meine Chefin. Ich hatte großes Glück, dass sie mich immer noch bei den Stücken dabei hat.
Das Stück dauerte zwei Stunden.
Ich war völlig neben der Spur.
Verpasste meinen Part, versprach mich, vergaß meinen Text.
Und das nur weil ich abgelenkt war.
Sie war da...
Sie sah mir direkt in die Augen. Manchmal zumindest. Meistens sah sie schräg an mir vorbei, wie sie es immer tat.
Mein Herz zog sich zusammen. Wie ich es immer geliebt hatte...
Sie saß direkt neben ihrer Tante.
"Aber Doktor! Diese Operation ist eine 50/50 Chance!" rief eine Schauspielerin neben mir zu.
Jenna's Blick verkrampfte sich.
Jetzt sollte Eigentlich mein Text kommen, doch ich konnte sie nicht aus den Augen lassen.
Warum verkrampfte es sich?
"Jimin!" zischte mir ein Crew-Member unter der Bühne zu.
Ich ignorierte ihn.
Jenna sah so krank aus und das obwohl sie geschminkt war.
Hinter all dem Make-up und den schönen und gepflegten Haaren und Klamotten erkannte ich sie. Die echte Jenna.
Auch sie hatte abgenommen, ihre Haut war blass, ihre Lippen aufgebissen, die Augenringe riesig.
"Denkst du ich hätte alles gespielt?" fragte ich mit einer lauten, klaren stimme.
ich sprach direkt zu ihr ins Publikum und schaute ihr in die Augen.
Das Publikum verstummte und meine Kollegen schauten mich verwirrt an.
"Jimin! Das ist nicht dein Text!" zischte mir der Crew-Typ wieder zu, ich ignorierte ihn immer noch.
"Ich weiß ich habe alles versaut. Ich weiß das du mich aus tiefsten Herzen hasst..."
fuhr ich fort und machte einen Schritt weiter zu.
"Ich schaue dir in diesem Moment in die Augen. Ich weiß du kannst mich nicht sehen, doch ich weiß auch das du es fühlst."
Sie schaute nervös hin und her, hielt die Hand ihrer Tante.
"Okay. Ich gebe es zu...[...]"
Der Scheinwerfer schien jetzt nur auf mich.
Das Publikum war stockdunkel.
Es fühlte sich an als wären nur sie und ich im Saal.
Ich konnte praktisch ihren Atem hören.
"Es war gespielt. Ja. Das war es. Doch nur anfangs! Ich hatte über all die Zeit mit dir wahre Gefühle entwickelt!"
Es war zu dunkel um zu erkennen, ob sie weinte oder nicht, doch sie drehte sich mit dem Gesicht zu mir um und schluckte.
"Weißt du wie das klingt? So typisch Film. Typisch Klischee, Park Jimin."
Jetzt richtete sich ein anderer Scheinwerfer auf sie.
Ich hätte nicht gedacht das sie genau so laut redete und das so selbstbewusst wie noch nie.
Egal was andere Menschen von ihr dachten, die sich dachten wer sie war, warum sie redete, ob sie blind war oder nicht.
"Du hast nicht nur mich, sondern auch meine Tante belogen und verarscht. Es reicht ja das du mich so betrogen hast, aber sobald du meiner Tante etwas derartiges antust...
Das ist die unterste Schublade, Jimin.
Dass jemand mich komisch von der Seite anschaut, weil ich blind bin, ist eine Sache.
Aber das mich jemand ausnutzt, wegen meiner Behinderung... Ich kann es kaum fassen dass du es so dermaßen ausgenutzt hast."
Sie machte eine Pause, Ms. Wang strich den Arm ihrer Nichte und flüsterte ihr etwas zu.
Wahrscheinlich das sie aufhören sollte.
"Nein! Ich werde mich nicht beruhigen!" schrie Jenna und funkelte mich mit Tränen in den Augen an.
"Du hast mich verletzt, verraten und deine eigenen Freunde! Schämst du dich nicht?"
(Doch, Jenna. Das tue ich. So sehr.) ging es durch meinen Kopf.
"Fühlst du dich jetzt besonders, nur weil du dein Stück stoppst, hier ein Szene machst und mich um Verzeihung bittest? Denkst du dann wird alles gut?"
Ich seufzte und ballte meine Fäuste.
"Mir ist klar das du mir nicht vergeben kannst."
-"Nein. Ich kann schon..."
Ich schaute sie kurz hoffnungsvoll an, doch sie fuhr fort.
"...aber ich will und werde es um Himmels Willen nicht."
Das Publikum stöhnte auf und buuhte.
Ich schaute Jenna ehrlich an und sah wie sie zitternd aufstand und Vivien, die ich erst jetzt bemerkte, die sie stützte.
Jenna nickte ihr kurz zu und lief den mittleren Hauptweg allein weiter.
Ohne Gehstock.
Ohne jegliche Hilfe.
Ihre Hände schwankten in der Luft und suchten den Weg.
Sie sah wieder so hilflos aus.
Ich konnte sie nicht gehen lassen.
Wenn ich sie jetzt gehen ließ, ist es vorbei.
Wenn ich sie jetzt gehen ließ, dann... für immer.
Ich sprang von der Bühne und rannte zum Gang, blieb jedoch fünf Meter hinter ihr stehen.
"Hör mir bitte noch ein letztes Mal zu. Wenn du danach gehen willst, tu es. Dir steht nichts im Wege.
Doch wenn du bleibst... Sehe ich es als erneute Chance an."
Ich lief zu ihr, damit sie mich vor sich hatte, damit sie sich nicht umdrehen musste.
Ich nahm ihre Hand, sie wehrte sich.
"Jenna. Einmal." bat ich verzweifelt.
Und sie gab nach.
Ich nahm ihre kleine, ringlose Hand in meine und führte sie zu meinem Gesicht.
Ihre Hand wieder zu berühren, gab mir das Gefühl von Wärme, obwohl diese eisig kalt waren.
Wir wussten beide was ich vorhatte.
Tränen liefen mir die Wangen runter.
Ihre Fingerspitzen fuhren meine Augen, meine Nase, meine Lippen entlang.
"Dieser Jimin. Den du so kennengelernt hast..." wisperte ich und führte ihre Handfläche an mein Herz.
"Das ist sein wahres Ich."
Das Publikum verstummte, ein paar machten "Aaw".
Ich atmete noch ein letztes Mal ein und zwang mich so ehrlich wie noch nie zu sein.
"ALLES was ich dir jemals sagte, seien es meine Gefühle, meine Angst, meine Liebe zu dir, oder ALLES was ich dir je schenkte, den Gehstock oder den Ring... Und ALLES was ich dir je zeigte... Die Tiere, Farben, den Ort meiner Mutter..."
Meine Augen wurden wässrig.
"Das war alles echt."
Den letzten Satz konnte ich nur noch flüstern.
Jenna sagte nichts mehr, lief einfach an mir vorbei als wäre nichts gewesen, doch im gleichen Moment sah ich wie sie sich kurz durch das Gesicht wischte und weiter torkelte.
Man hörte sie kaum laufen. Es war so ungewohnt. Es waren immer sie und der Gehstock.
Und selbst den hatte sie nicht mehr.
Genauso wie mich.
Die Tür wurde geöffnet und man führte sie raus.
Als sie nicht mehr zu sehen war, sackte ich zusammen und packte mir an den Kopf.
"Jenna..." wisperte ich kraftlos.

Auf einmal tobte das Publikum aus und Beifall wurde pausenlos geklatscht.
"Bravoooo! Bravo! Zugabe!"
Ich schaute auf. Verwirrung stand in meinem Gesicht wie geschrieben.
Ich dachte eher man würde mich ausbuuhn, da ich das Stück komplett unterbrochen hatte, doch ich hatte das Gegenteil bewiesen.
Der Theaterkritiker kam auf die Bühne und applaudierte nochmal für alle Schauspieler.
"Diese zwei unterschiedlichen Szenen in eine verschmelzen zu lassen ist eine äußerst moderne und neue Schauspielart! Ausgezeichnete Arbeit an alle Schauspieler und Ms. Wang! Dem Produzenten Ly Xing natürlich auch!"
Das Publikum flippte wieder aus und alle standen auf.
Produzent Ly Xing, verwirrt doch zufrieden mit dem was ich gemacht hatte, riss meine Hand und die von Ms. Wang feierlich hoch, doch mir war eher nach Übergeben zumute.
Sie war auch mal glücklicher.
Alle aus dem Publikum standen, außer zwei Personen. Sie sahen mich bemitleidend an.
Choa und... Mein Dad.

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