13. Durch Mark und Bein

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Der Schrei war schrill und gellend, er ging allen Anwesenden durch Mark und Bein. Jeder schaute sich erschrocken um. Auch die beiden Jungs hörten auf, sich zu prügeln und richteten ihre geschockten Blicke in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen sein musste.

Der Typ, mit dem ich gerade kurz geredet hatte, war der erste, der sich aus seiner Starre löste und loslief. Nach und nach folgten ihm die meisten anderen. Nur ein paar Mädchen blieben zurück und drückten sich verängstigt aneinander. Auch einige Jungs gingen nicht mit und taten, als wäre es ihnen egal. Sophie und ich hingegen waren ganz vorne. Wir hielten uns an den Händen. Der Typ von vorhin hatte seine Handytaschenlampe angeschaltet und ließ sie im Gras umherschwenken. Wir verließen Andrews Garten und zogen durch die Kleingartenreihe. Keiner sagte irgendein Wort. Alle waren sich sicher, dass irgendwas passiert war. Das war kein Schrei eines betrunkenen Mädchens, das mit ihrem Freund herumalberte. Hier war auch niemand gestolpert und hingefallen. Dieser Schrei hatte so viel Angst und Schrecken in sich. Und die machte sich auch in uns breit, als der Junge mit der Taschenlampe urplötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Ich rannte ihm fast in den Rücken und noch verdeckte er mein Sichtfeld. Doch dann machte ich einen Schritt zur Seite und blickte auf den Boden, als mir der Atem stockte.

Es fühlte sich an, als würde mein Herz für eine Sekunde aufhören zu schlagen. Vereinzelt hörte ich neben mir erschrockene Schluchzer. Sophie ergriff meine Hand und drückte fest zu. Dann knickten meine Knie ein und ich sank zu Boden. Dieser Anblick war zu viel für mich.

Sie war blutverschmiert. Ihre Augen waren weit geöffnet und ihre Arme und Beine lagen komisch verdreht auf dem nassen Gras. Neben ihr sah man eine Flasche Kirschlikör liegen. Vorhin erst hatte ich sie noch gesehen. Sie hatte ein süßes Partykleid angezogen und ihre hellblonden Haare zu Locken gedreht. Sie war unauffällig. Aber immer freundlich. Ich konnte mich vage an ihren Namen erinnern. Natalie. Natalie aus meinem Biokurs. Und Mathe hatte ich, glaubte ich zu wissen, auch mit ihr. Ich hatte mir ein paar Mal einen Füller von ihr geborgt, wenn ich meinen vergessen hatte. Eine zeitlang war sie immer mit Krücken gelaufen. Ich glaube, sie hatte Volleyball gespielt oder so. Sie lachte oft, aber redete nicht so viel. Und wenn ich sie auf Partys sah, hatte sie immer eine Flasche Kirschlikör in der Hand, aber besonders betrunken hatte ich sie noch nie erlebt. Mehr Erinnerungen hatte ich nicht an sie. Und jetzt lag sie da vor mir. Die Augen weit aufgerissen, den Mund noch zum Schrei geöffnet, der in ihrer Kehle erstickt war. Auf ihrer linken Brust ein roter Kreis. Tot.

Mary, ein großes Mädchen mit kurzen, braunen Haaren und mit dem ich mich manchmal in der Pause unterhielt, schrie auf und stürzte auf die Leiche zu. Sie legte ihren Kopf an Natalies Brust. Sie nahm ihr Gesicht in ihre Hände, schüttelte ihren Körper und weinte die ganze Zeit, gab laute Schluchzer von sich und rief immer wieder:
"Nati? Nein! Bitte nicht! Wach auf, meine kleine Nati! Komm schon! Nati...?"
Dann wandte sie sich mit triefender Nase an die Umstehenden:
"Ruft doch endlich jemand den Notarzt! Die Polizei! Macht irgendwas!"
Ihre Stimme überschlug sich und sie sah so unglaublich verzweifelt aus, dass auch mir die Tränen kamen. Sophie war schon lange neben mich auf den Boden gesunken, verdeckte ihr Gesicht und weinte vor sich hin. Ich kuschelte mich an sie und wartete, bis alles um mich herum verschwamm. Das aufgeregte Stimmengewirr vermischte sich mit den leisen Schluchzern von Sophie und dem Geräusch meines eigenen Herzschlags. Nach einer Weile kam das Sirenengeheul der Polizeiwagen, die gerade anrückten, dazu.

Ich saß in einem Polizeiauto und beobachtete müde die vorbeiziehenden Laternenlichter auf der Straße. Sophie saß neben mir und schien halb eingeschlafen zu sein. Ganz links saß Andrew.  Er war total fertig. Schließlich war das alles auf seiner Gartenparty passiert. Wahrscheinlich fühlte er sich schuldig, weil er Natalie eingeladen hatte. Er tat mir total leid. Aber jetzt konnte man noch nicht mit ihm reden. Es wäre wahrscheinlich gar nicht bei ihm angekommen.
Auch ich konnte es nicht fassen. Man hörte manchmal von solchen Dingen in den Nachrichten und dachte immer: "Wie schlimm das sein muss... Zum Glück ist das nicht hier passiert."
Und nun war es hier passiert. Und ich hatte es live miterlebt. Mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört. Ich kam mir vor wie in einem Film. Als würde ich mir selbst zuschauen.

Und neben all diesen schrecklichen Gefühlen, der Angst, dem Schock, der Ungewissheit, wuchs in mir auch Sehnsucht. Ich sehnte mich nach einer Schulter, an die ich mich lehnen konnte, nach zwei starken Armen, die mich beschützend umschlossen. Ich wollte bei Manuel sein. Seine dunkle, beruhigende Stimme hören. Den heutigen Abend einfach nur vergessen.

| Puh... Irgendwie macht mich das gerade selbst ein bisschen fertig. Ich hab bis eben noch nie wirklich darüber nachgedacht, wie schlimm so etwas sein muss, selbst, wenn man das Opfer nicht so gut kennt.

Naja, was denkt ihr, was mit Natalie passiert ist? 😶

Und wie soll es mit Lissy und Manuel weitergehen? 🤔

Voten und kommentieren wär voll tollig c:

Eure Emi ❤ |

Vernunft und TriebWhere stories live. Discover now