Kapitel 1

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Erschöpft lag ich in meinem Bett und dachte daran, was mich die nächste Woche erwarten würde. Das neue Semester stand mal wieder vor der Tür und brachte die altbekannte Nervosität mit sich. Auch wenn ich durch das Studium ein deutlich offener Mensch geworden war, fand ich den Gedanken daran, sich jedes halbe Jahr auf neue Menschen einstellen zu müssen eher beunruhigend. Jedes Mal galt die Herausforderung einen neuen Verbündeten zu finden, um die endlos scheinenden Seminare und Vorlesungen zu überstehen. Am Anfang stand dabei immer der selbe Smalltalk, die üblichen Fragen. Doch nach fünf Semestern hatte ich mich daran gewöhnt und schaffte es mal mehr und mal weniger motiviert die erste Vorlesungswoche zu überstehen.

Doch das Problem mit den ständig wechselnden Leuten kannte ich bloß von einem meiner Fächer. Mein zweites Fach war an einer Massenuniversität wie meiner eher selten vertreten und brachte den Vorteil mit sich, dass einem die meisten Gesichter in den Kursen zumindest bekannt vorkamen. Allerdings begegnete man dabei nicht nur denselben Studenten, sondern auch die Dozenten begleiteten einen häufig durch mehrere Semester. Das konnte sowohl als Fluch oder Segen angesehen werden und das galt für mich vor allem für eine Dozentin. Frau Michelsen war seit einem Semester am Lehrstuhl für Literaturwissenschaft an unserem Institut tätig und gab Kurse in Neuere und Ältere Literatur. Schon letztes Semester hatte ich einen ihrer Kurse belegt und war nicht bloß vom Inhalt begeistert gewesen. Diese Frau hatte es geschafft, mich vollkommen durcheinander zu bringen. Frau Michelsen hatte innerhalb des letzten Semesters mein Herz erobert und mir wurde klar, dass ich ihr verfallen war.

Jeder Hauch von übrig gebliebener Vernunft in mir schrie danach im kommenden Semester auf Abstand zu gehen. Ich wusste, dass ich mich nur immer weiter in meine Schwärmerei hineinsteigern würde. Doch statt auf Abstand zu gehen und zu versuchen, diese Frau wieder aus dem Kopf zu kriegen, hatte ich mich erneut für einen ihrer Kurse angemeldet und einen der Plätze ergattert. Mir war klar, dass ich nichts Dümmeres hätte tun können, aber ihre Anziehungskraft war einfach zu stark. Der Gedanke daran, für mehr als zehn Wochen anderthalb Stunden im selben Raum wie sie zu sein, ihren Worten zu lauschen und ihre Schönheit zu bestaunen zu können, gefiel mir zu gut.

Gefühle für eine ältere Frau zu entwickeln, war für mich kein Neuland. Schon seit meiner Jugend verfiel ich Frauen, die in ihrem Leben schon deutlich weitergekommen waren als ich. Abwechselnd schwärmte ich für Schauspielerinnen, Lehrerinnen oder Frauen, die ich durch Zufall kennenlernte. Ehrlich gesagt hatte ich mich mit meinen anfang zwanzig mittlerweile daran gewöhnt, dass die Liebe für mich vor allem eins bedeutete: Sehnsucht. Die Anziehung, die meine Dozentin auf mich ausübte, war demnach nichts Neues für mich und doch gleichzeitig völlig anders als alles bisher erlebte. In ihrer Nähe war ich ein vollkommen anderer Mensch: Ich war nervös, unkonzentriert und konnte meine Augen nicht von ihr abwenden. Ihre ganze Person zog mich in ihren Bann und ich hatte mich und meinen Körper so gut wie nicht mehr unter Kontrolle. Allein ihre Anwesenheit brachte mich um den Verstand und ich hoffte inständig, dass ihr all das bisher noch nicht aufgefallen war. Falls nicht, war das jedoch bloß eine Frage der Zeit.

SemesterliebeWhere stories live. Discover now