Die Gelegenheit

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Emilia

Im Flur entledigte sie sich erst einmal ihrer – vom Schnee tropfenden – Stiefel und ging in die Küche, wo ihr Vater gerade das Mittagessen vorbereitete.

„Hi Dad, ist Mama noch nicht zu Hause?"

Mit gekonnten Griff schwang Emilias Vater die Pfanne, so dass der Pfannkuchen sich in der Luft überschlug, ehe er antwortete: „Hallo meine Große! Nein, Venia ist noch nicht zu Hause. Sie wird wohl erst gegen 18 Uhr aus dem Büro wieder kommen und Elisabeth ist heute bei einer Freundin. Magst du deinen Bruder holen, wir können gleich essen?"

„Aber klar!", Emilia ging die Treppe hoch zum Zimmer ihres Bruders. Vor Tommys Tür legte sie sicherheitshalber ein Ohr dagegen und lauschte. Doch das war unsinnig, denn Tommy hörte mal wieder laut Musik, wodurch man sowieso keine Stimmen hätte hören können. Emilia schüttelte über sich selbst den Kopf, holte tief Luft und hämmerte gegen die Lautstärke an.

Nach mehrmaligem Klopfen ging die Tür auf und die ohrenbetäubende Musik schwang ihr entgegen. „Was willst du?", murrte Tommy sie an. Emilia wollte ihrem Bruder gerade die Nachricht ihres Vaters entgegenschreien, um gegen die Lautstärke anzukommen, überlegte es sich jedoch anders. Mit verzerrtem Gesichtsausdruck formte sie die Worte „Dad sagt wir sollen zum Essen kommen", so als würde sie versuchen gegen die Lautstärke anzukämpfen. Notgedrungen machte Tommy die Musik aus, um seine Schwester verstehen zu können. Darauf hatte Emilia gewartet. Mit lauter Stimme brüllte sie Tommy direkt ins Gesicht: „Dad sagt wir sollen zum Essen kommen!", drehte sich um und hüpfte lachend die Treppe hinunter, gefolgt von ihrem Bruder, der sie am liebsten in den Schnee geschmissen hätte.

„Emilia, was schreist du denn hier durch das Haus?", ihr Vater schaute irritiert aus der Küche. „Nichts Dad, ist schon gut", gluckste sie und bekam einen Schluckauf. Tommy nahm den Platz gegenüber von ihr ein und funkelte sie wütend an. Emilia allerdings tat, von seinem Blick unbeeindruckt, sich einen Pfannkuchen auf und bestrich ihn mit Apfelmus.

„Die Pfannkuchen sind toll geworden", sie schob sich ein weiteres Stück in den vollen Mund. „Danke! Aber schling nicht so gierig", ihr Vater schnitt sich stolz über ihr Kompliment ein Stück seines Pfannkuchens ab. „Und was gibt es bei dir Neues?", fragte er zu Tommy gewandt. Emilia verdrehte die Augen. „War natürlich klar, dass Dad beim Essen ein Gespräch mit Tommy anfängt. Bestimmt reden die gleich nur wieder über Pferdestärken oder um wie viele Punkte ihr Lieblingsverein aufgestiegen ist", dachte sie mit leichter Eifersucht. Schulterzuckend antworte Tommy: „Alles wie immer!"

Ein bisschen enttäuscht, dass sein Sohn einem Gespräch mit ihm auswich sagte ihr Vater: „Nun gut, nicht schlecht. Ich werde gleich Schnee schippen. Wenn ihr euch um den Abwasch kümmern würdet"

„Machen wir!", antworteten Tommy und Emilia im Chor.

„Das ist schön!", die Miene ihres Vaters hellte sich langsam auf, dann ging er nach draußen.

Während des Abwasches redeten Tommy und Emilia nicht viel. Doch als Emilia sich auf den Weg in ihr Zimmer machte zischte ihr Tommy im vorbei gehen zu: „Das werde ich dir noch heimzahlen" Wieder verdrehte Emilia die Augen.

„Jungs können so nachtragend sein", murmelte sie.

The gift - Das Geschenk, das sich zu entdecken lohntWhere stories live. Discover now