Eins

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"Du siehst besser aus", meint Isabell, als ich in ihr Auto steige.

"Danke. Das heißt wohl, dass ich vorher scheiße aussah", gebe ich von mir.

Sie scheint mir immer noch böse zu sein. Ich an ihrer Stelle wäre es wahrscheinlich auch. Ich habe ihr so einige Sachen gestohlen und verkauft, um mir meine Sucht zu finanzieren. Eine Zeit lang habe ich bei ihr gewöhnt, aber dann hat sie mich aus ihrer Wohnung geworfen, weil sie keine Lust mehr auf mich hatte, wenn ich wieder mal auf einem Trip war. Andererseits kann ich es ihr nicht verübeln ich war echt scheiße zu ihr. Sie hat mich aufgenommen, nachdem unsere Eltern mich rausgeworfen haben, und ich habe es schamlos ausgenutzt.

"Das habe ich nicht gemeint", widerspricht meine Schwester mir. "Ich meine nur, dass du nicht mehr so aussiehst, als würdest du gleich sterben."

"Das heißt, dass ich scheiße aussah", stelle ich fest.

Es ist egal, wie sie es versucht zu verpacken. Wir wissen beide, dass ich vor einiger Zeit noch ziemlich abgewrackt aussah. Wie ein Junkie eben. Ungeduscht, in schmuddeligen Klamotten und sichtlich ohne Geld. Wenigstens habe ich nicht unter eine Brücke gewohnt. So weit kam es dann doch nicht. Zumindest nicht wirklich. Ich habe mal ein oder zwei Nächte irgendwo draußen gepennt, aber wie es dazu kam, daran erinnere ich mich nicht mehr.

"Das hast du jetzt gesagt", meint Isabell und lacht ein wenig.

Ich verdrehe bloß die Augen. Was soll sie auch sonst sagen. Sie ist viel zu nett, um mir zu sagen, dass ich aussah, als hätte ich irgendwo im Wald gewohnt und seit Wochen nicht mehr geduscht. Isabell würde es manchmal nicht schaden die Wahrheit zu sagen und nicht immer alles schön zu reden und zu verharmlosen. Wenigstens hat sie sich den richtigen Job ausgesucht in dem es vielleicht ganz von Vorteil ist nett zu sein. Als Grundschullehrerin sollte man nicht gerade ein totaler Assi sein und sich so verhalten. Laut ihrer Aussagen ist sie bei ihren Schülern ziemlich beliebt. Obwohl Kinder eigentlich jeden mögen, der halbwegs nett zu ihnen ist.

"Wie geht es dir?", fragt sich mich um von dem Thema meines Aussehens von vor einigen Monaten abzulenken.

"Besser", sage ich wahrheitsgemäß.

Mir geht es tausend mal besser, als zu den Zeiten in denen ich mich richtig Elend gefühlt habe und der Meinung war, dass ich sterben würde, wenn ich nicht binnen Stunden die Nadel unter die Haut bekomme. Der Entzug dagegen war eine Qual, zumindest kam es mir so vor. Wieder einmal habe ich gedacht, dass ich sterben würde. Ich habe mir die Seele aus dem Leib gekotzt und war ständig müde, konnte aber nicht schlafen. Über meine Sucht habe ich hunderte Mal gesprochen und alle Probleme besprochen, aber reden alleine bringt da nichts. Man muss es dann auch machen.

"Und wie geht es dir?", frage ich meine Schwester, da sie drauf zu warten scheint.

Ich kenne sie immer noch gut genug, um zu wissen, dass sie unbedingt etwas los werden möchte. Wir haben uns in der Zeit meiner Abhängigkeit zwar voneinander entfernt, aber das heißt nicht, dass ich sie nicht mehr durchschauen kann. Isabell ist ziemlich leicht zu durchschauen. Außerdem grinst sie wie ein Honigkuchenpferd, was ganz sicher nicht an meiner Anwesenheit liegt. Ich glaube immer noch, dass sie nicht sonderlich davon begeistert ist, dass sie mich bei sich aufnimmt, aber sie weiß genauso gut, wie ich, dass ich sonst nirgends hin kann. Zu unseren Eltern möchte ich nicht mehr und sonst habe ich niemand mehr. Alle Freunde, die ich vor meiner Zeit als Junkie hatte, wollen entweder nichts mehr mit mir zu tun haben oder umgekehrt und die Leute bei denen ich wechselnd gewohnt habe, waren alles Junkies wie ich. Isabell ist die einzige zu der ich kann, wenn ich nicht wieder in die Sucht reinrutschen möchte, was ich auf keinen Fall will. Das scheiß Heroin hat mein Leben zerstört. Sie nimmt mich wohl einfach auf, weil sie nicht will, dass ich auf der Straße lande und mein Lebens aufs neue vermassele. Was durchaus möglich wäre. Nur dass es dieses Mal dann viel schlimmer werden würde. Ich hätte wirklich kein Geld und kein Dach über dem Kopf.

"Holden hat mir einen Antrag gemacht", platzt sie mit ihrer Neuigkeit heraus.

Hatte ich sie eigentlich nicht gefragt, wie es ihr geht? Und sollte ich wissen wer Holden ist? Ich erinnere mich an den Typ kein bisschen. Zugegebenermaßen erinnere ich mich an so einige Sachen nicht oder ich habe sie nicht mitbekommen. Meist habe ich nicht zugehört oder ich war zu drauf, um ein Gespräch zu verfolgen. In der Zeit meines Entzugs habe ich wenig Kontakt zu anderen gehabt und dementsprechend nichts von der Außenwelt mitbekommen. Ich könnte nur raten, wie dieser Holden aussieht. Da ich nicht zugeben möchte, dass ich keine Ahnung habe, tue ich einfach so, als wüsste ich wen sie meint. Ich möchte nicht gleich in der erste Stunde einen Streit mit meiner großen Schwester anfangen.

"Das ist doch super", sage ich und versuche dabei zu lächeln.

Isabells Leben ist perfekt im Gegensatz zu meinem. An meinem beschissenen Leben bin ich aber selbst Schuld, was aber nichts daran ändert, dass ich neidisch auf meine große Schwester bin. Sie scheint einen netten Freund zu haben, den sie bald heiraten wird. Sie hat eine eigene Wohnung, einen tollen Job und einen Haufen Freunde. Ich habe nichts. Keinen Freund, keine Wohnung, keinen Job. Nicht mal einen Schulabschluss habe ich. Was ein weiteres Problem darstellt. So wie mein Lebenslauf im Moment aussieht werde ich nur Scheißjobs mit schlechter Bezahlung bekommen. Ich könnte meinen Abschluss nachholen, aber dazu habe ich keine Lust. Lernen war noch nie mein Ding.

"Ich habe mich so gefreut, als er mich gefragt hat. Er war so süß..."

Ich höre nicht weiter zu, wie toll ihr Freund ist und wie er ihr den Heiratsantrag gemacht hat. Ich habe keine Lust mir auf dem Silbertablett von ihr servieren zu lassen, wie toll bei ihr alles läuft und dass ich eine totale Versagerin bin. Das weiß ich selbst gut genug. Mir ist klar, dass Isabell das nicht mit Absicht macht, aber es fühlt sich trotzdem beschissen an.

Ich nicke hin und wieder oder gebe einen zustimmenden Laut von mir, während ich aus dem Fenster sehe und die Leute beobachte, die auf der Straße unterwegs sind. Ich versuche mir vorzustellen, wie diesen Menschen ihr Leben aussehen könnte. Ob sie eine Familie haben oder ob sie alleine leben. Ob sie glücklich sind oder nicht. Ich versuche es zu mir vorzustellen, aber eigentlich kann ich es nicht wissen. Genauso wenig wie die Leute, die mich jetzt treffen werden, wissen können, dass ich vor ein paar Monaten noch der klischeehafte Junkie war. Vorausgesetzt ich kann dieses Geheimnis für mich behalten.

Ich will einen Neuanfang wagen und nicht mehr die Drogenabhängige sein.

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