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[Mario]

Schwer schnaufend riss Marco um kurz vor 12 die Tür auf. Tiefe Augenringe zeichneten sein Gesicht, die blasse Haut wirkte fahl und seine Haare hingen ihm platt in die Stirn.
"Ich bin da, ich bin da", keuchte er und ging etwas in die Knie. Ich wusste, dass es nicht angebracht war, schon wieder ein Drama zu veranstalten, aber innerlich kochte ich vor Wut. Was fällt ihm eigentlich ein, kurz vor Torschluss hier aufzutauchen und das in diesem Zustand?! Ich zählte in Gedanken einmal bis 10 und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. "Nicht aufregen, bloß nicht aufregen", flüsterte ich mir leise zu, sodass Marco es nicht hörte.

"Marco. Sieh mich an", forderte ich letztendlich nüchtern. Seine Augen waren glasig, der Blick leer. "Du kannst so nicht fahren", bemerkte ich trocken. Der Blondschopf hingegen winkte ab und lachte verächtlich. "Mir geht's tippi toppi",  sagte er und schnalzte mit der Zunge. In Gedanken verdrehte ich die Augen und seufzte dann ernüchtert. Es gab keinen Plan B. "Nie im Leben lass' ich dich so fahren", setzte ich nach und schob die Bettdecke beiseite. Ein stechender Schmerz zuckte durch meinen Brustkorb und ich musste einige Sekunden mit angehaltenem Atem auf der Bettkante verharren. Wieder lachte der Blondschopf und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. "Ich bin schon gefahren, da ging es mir deutlich schlechter", bemerkte er schulterzuckend und schob den Rollstuhl neben das Bett. "Immer rein da, wir haben nicht ewig Zeit, Herr Götze", witzelte er und schlüpfte derweil in einen weißen Kittel, von welchem ich gar nicht wissen wollte, wo er ihn hatte mitgehen lassen - aber immerhin hatte er daran gedacht.

Ich atmete tief durch und wägte die Argumente für und gegen diese eigentlich absolut bescheuerte und zum Scheitern verurteilte Aktion ab. Der Kittel ließ den jungen Mann tatsächlich viel seriöser wirken, auch wenn das schwarze V-Neck Shirt und die dunkle Jeans kombiniert mit ebenfalls dunklen Sneakern nicht gerade überzeugend wirkten. Und doch zog mich Dr. Reus mit seinem spitzbübischen Grinsen und den perfekt unperfekten Haaren einfach in seinen Bann. Plan A musste funktionieren und ich musste dieses Risiko einfach eingehen. Nichts und niemand würde mich davon abhalten, meine beste Freundin so zu verabschieden, wie sie es verdient hatte. "Bin bereit", kommentierte ich und ließ mich ächzend in den gepolsterten Rollstuhl sinken. Ich hoffte inständig darauf, dass alles glattgehen würde - die Schwestern wie vermutet im Pausenraum zu Mittag aßen und sich ansonsten keine weiteren Patienten auf dem Gang herumtreiben würden.

Marco räusperte sich, sah sich einmal in dem Zimmer um und griff nach meiner Jacke. "Wir wollen ja nicht, dass du dich erkältest", murmelte er und schmiss die Jacke unbedacht auf meinen Schoß. Als hätte ich keine anderen Probleme. Selbstsicher stellte er sich hinter meinen Rollstuhl und öffnete die Zimmertür. Tatsächlich stellte der Blondschopf sich alles andere als geschickt an und ich hatte schon jetzt wieder das Bedürfnis, meinen Kopf gegen die Wand zu hauen, als er es nicht schaffte, gleichzeitig die Tür offen zu halten und mich im Rollstuhl hinaus zu schieben. Der Reifen hatte sich verkeilt und Marco ruckelte ungeduldig an dem schweren Stuhl: "So wird das nie was", kommentierte ich seufzend und sah auf die Uhr. "Wir schaffen das schon, Herr Götze", sagte er aufgesetzt optimistisch und schob mich schließlich zielstrebig in Richtung Aufzug. Bisher war der Gang zu unserem Glück - bis auf einen älteren Mann, der seine Infusion spazieren fuhr - leer.

Hektisch sah ich mich immer wieder um, trommelte unentwegt mit den Fingerspitzen auf meinen Oberschenkeln herum. Ich musste den Drang unterdrücken, nicht aus dem alten Rollstuhl aufzuspringen, um so schnell wie möglich aus diesem Krankenhaus zu entkommen. Marco schien die Ruhe selbst. "Jetzt sei nicht so hibbelig, sonst wirst du gleich noch rüber in die Psychiatrie gebracht und kannst blaue Pillen schlucken!" witzelte er. Ich rollte daraufhin nur mit den Augen, was er zum Glück nicht sehen konnte. 

Die Luft im Aufzug war stickig und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wir endlich das Erdgeschoss erreicht hatten. Die schlimmste Etappe hatten wir überstanden, unten im Foyer waren so viele Patienten unterwegs - alleine, mit der Familie. Ärzte gingen zügig von A nach B und Gott sei Dank beachtete uns keiner, als wir schnurstracks den Ausgang ansteuerten. Direkt vor der Tür, genauer gesagt mitten in der Ladezone, stand Marcos schwarzer Aston Martin, worüber ich nur mit dem Kopf schütteln konnte. "Ein noch auffälligeres Auto hast du nicht gefunden oder? Vielleicht das nächste Mal noch mit Chrom-Lackierung", kommentierte ich spottend. Der Blondschopf hatte mich am Randstein abgestellt und die Beifahrertür geöffnet. Nun stand er direkt vor mir und funkelte mich grinsend an. Seine Gesichtsfarbe sah deutlich gesünder aus, auch wenn seine Augen noch glasig schimmerten. "Nur das Beste für meine Patienten. Und welcher Arzt träumt denn nicht von so einer geilen Karre?" entgegnete er trocken und packte mich am Oberarm.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 05, 2019 ⏰

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Gewitterwolken | GötzeusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt