32. Kapitel (Tobias)

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Das Tropfen ist kaum hörbar, doch wenn man sich genau darauf konzentriert, erkennt man den gleichmäßigen Rhythmus. Ich erinnere mich daran, wie ich öfters mitten in der Nacht aufgewacht bin und dann war da dieses Tropfen. Eindringlich und gleichmäßig. Ich wusste nie, wo es herkam – schob es immer auf eine kaputte Wasserleitung oder ähnliches – doch jetzt weiß ich, dass es ein Wink aus der Realität war, welcher es irgendwie geschafft hat, zu mir in die Simulation durchzudringen. Sogar in meinen Halluzinationen, in denen ich mich sozusagen wieder in der Simulation befand, war da immer irgendwo dieses Tropfen, obwohl ich ja eigentlich nicht mehr neben dem Wassertank lag. Doch vielleicht hat mein Gehirn, es als eine Art Warnung abgespeichert, welche mir hätte zeigen müssen, dass das was ich sah, nicht real war.
Ich umfasse das Ventil unterhalb des Wassertanks mit beiden Händen und schraube es auf. Schnell trete ich zurück, als sich das Wasser über meine Füße ergießt. Es schwappt in einer Welle über den Stein und läuft anschließend in Rinnsalen über den gefliesten Boden.

In den nächsten Augenblicken werden wir nach Chicago zurückkehren – obwohl zurückkehren ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Es fühlt sich eher wie ein völliger Neuanfang an. Als ich die Stadt verlassen habe, war sie ein namenloser Ort, geprägt mit düsteren Erinnerungen. Es war wie der Ausbruch aus einem Käfig, welcher unsere Welt auf den Zaun beschränkte. Wenn ich jetzt dorthin zurückkehre, werden da immer noch die Erinnerungen sein, aber es wird anders. Es wird neu. Wir wissen jetzt, dass da draußen viele Städte sind, mit vielen Menschen. Es wird ein Ort sein, den ich freiwillig wähle; indem jeder völlig frei wählt, wie er sein möchte – wer er sein möchte – es gibt keine Einschränkungen der Fraktionen mehr; keinen Zaun, der uns umschließt; kein Amt, welches uns studiert und keine Einteilung nach Genen. Ich bin bereit für diese neue Welt. Bereit für mein neues Zuhause mit meinen alten Freunden – mit Tris.

Eine Gruppe von Leuten betritt den Kontrollpunkt. Cara winkt mir lächelnd zu und wendet sich dann ihren Mitläufen zu. Sie deutet auf die Statue und erklärt ihre Bedeutung. Sie war das Wahrzeichen des Amtes. Der Tank symbolisierte das vorhandene Potential und der Wassertropfen, dass was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich ausrichten konnten, die kleine Mulde im Fels – die Veränderung. Jetzt ist das Amt Geschichte und die Statue sinnlos geworden. Das Potential ist fort, aber die Veränderung groß.

Einige hören Cara zu, doch andere starren wie gebannt nach draußen oder laufen einfach weiter. Überhaupt verhalten sich die Leute eigenartig, seitdem sie resetet wurden. Einige sind total aufgedreht, andere wiederum sitzen stumm in einer Ecke und wiegen sich hin und her. Matthew und Cara haben dafür gesorgt, dass Ärzte aus Chicago und auch aus anderen Städten kommen, welche sich um alle Kranken kümmern, bis das Personal vom Amt wieder aus dem Nebel des Gedächtnisserums aufgetaucht ist. Aber in erster Linie brauchen wir Verstärkung, die uns dabei unterstützt den Bewohner vom Amt ein neues Weltbild zu kreieren. Doch ich werde nicht dabei sein. Ich habe genug von all dem hier. So geht es den meisten von uns.

Ich beobachte Christina, welche gemeinsam mit George draußen einen Truck belädt. Sie hat vorhin kurz mit mir gesprochen und mir erzählt, dass sie unseren Plan verraten hat. Ich glaube, ich habe so gut wie keinen Ton von mir gegeben und bin einfach so aus dem Raum gegangen, nachdem sie fertig war mit erzählen. Es hat mich wütend gemacht. Ich wollte sie am liebsten anschreien und ihr die Schuld für alles geben, was ich durchleben musste. Doch natürlich ist mir bewusst, dass dies nicht der Fall ist. Sie wusste schließlich nicht worauf sie sich einlässt und hatte nur gute Absichten. Außerdem waren wir beide in der Simulation sehr gute Freunde geworden, aber hier in der Realität verbindet uns nur Tris und unser gemeinsames Schicksal. Ich habe keine Ahnung, wie wir zueinanderstehen und was ihr Verrat mir gegenüber genau zu bedeuten hat. Es wird eine Weile dauern bis ich mir wieder genau darüber im Klaren bin.

Die Bestimmung - Letzte AngstWhere stories live. Discover now