~In jedem Abschied liegt die Ewigkeit~

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Hugo von Hofmannsthal

Lace

Nervös rutschte ich in meinem Stuhl hin und her. Seit einigen Minuten herrschte eine bedrückte Stille, die wohl zum  größten Teil von Anja und mir ausgehen musste. Unter dem Tisch hielt ich die warme Hand meiner Schwester fest im Griff und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie schwer mir diese ganze Warterei  fiel.

Dabei beobachtete ich den Mann, der mir gegenüber an dem kleinen Tisch saß. Mit ausdruckslosem Blick kramte er in seinem Koffer herum, schien nach den Unterlagen für Anja und mich zu suchen. Weitere Minuten vergingen, in denen mein Herz zu schnell schlug und der Mann in seinem Koffer wühlte.

Als er dann zwei kleine Kästchen aus der dunklen Tasche zog blieb mein Herz für eine Sekunde stehen. In diesem Kästchen, dass wusste ich von den wenigen Informationen, die uns erzählt werden dürften, würde sich meine Zukunft befinden.

In Anjas Kästchen würde sich eine silberne Kette befinden, daran ein Anhänger. Ein kleiner Stern für die Unterschicht, ein Buch von einem Durchmesser von vielleicht 1,5 cm für die Mittelschicht oder aber ein, in eine aufwendige Spirale gefasster Edelstein für die Oberschicht. Diese Kette mit dem Anhänger würde meine Schwester bis zu ihrem Tod tragen müssen.

Auf mich würde eine Uhr warten. Einfach braun mit einem einfarbigen und veralteten Uhrwerk für die Unterschicht, eine Uhr mit Lederband und Digitalanzeige für die Mittelschicht und eine metallene Uhr in Silber mit Digitalanzeige für die Oberschicht. Das waren meine Optionen, und auch für mich galt: Tragen bis das der Tod uns scheidet.

Als ich bemerkte, dass der Mann sich etwas aufsetzte richtete auch ich meine Aufmerksamkeit auf ihn. Er blickte kurz zwischen den Kästchen und uns hin und her, dann richtete er seinen intensiven Blick auf meine Zwillingsschwester.

"Anja Underwood. Wenn ich dir dieses Kästchen gebe wirst du hineinblicken in dem Bewusstsein, dass es deine Zukunft enthält. Du weißt, dass du dein Schicksal anzunehmen hast ohne dich zu beschweren und ehrenhaft deinem Staat dienst. Was auch immer von dir verlangt wird tust du, da du weißt, dass es zu deinem Besten und dem des Volkes ist."

Ein wenig verwirrt über die unerwartete Ansprache nickte Anja, dann fiel ihr Blick auf das Kästchen, welches der Beamte ihr langsam hinschob.

"Auf der Unterseite deines Schmuckstückes wirst du Zahlen oder Buchstaben vorfinden. Mit diesen wirst du auf der gestrichelten Linie in dem beigelegten Kasten unterschreiben, da sie dich von nun an repräsentiert. Wann immer nach deiner Unterschrift verlangt wird, ist dein Code gemeint."

Wieder nickte Anja bloß und der Mann schob ihr den Kasten nun ganz zu. Langsam legte sie ihre Hand darauf, wurde aber im letzten Moment von dem Mann aufgehalten.

"Wenn du deine Schicht kennst wirst du dieses Haus sofort verlassen. Draußen wartet ein Wagen auf dich, der dich zu deinem neuen Leben bringen wird. Von hier brauchst du nichts mitzunehmen."

Dieses Mal murmelte sie ein leises "Okay", dann entfernte sie den Verschluss von dem dunklen Quader. Als nächstes klappte sie den Deckel auf. Von meiner Position neben ihr konnte ich erkennen, wie sich ihr Gesichtsausdruck langsam veränderte. Zuerst verwundert, dann beinah erleichtert holte sie das dünne Band heraus.

Daran baumelte ein silbernes Buch. Unglaublich glücklich strahlte sie mich an, dann, mit zitternden Finger, öffnete sie den Verschluss und zog sich die Kette um ihren Hals. Ihre Finger nahmen zitternd den Stift entgegen, den der Mann ihr hinhielt, dann schrieb sie eine Reihe von Zahlen und Buchstaben auf den Bogen, ihr Blick immer von dem Anhänger zu dem Zettel gleitend.

Langsam, beinah wie in Trance, erhob Anja sich dann als sie den Stift zurück auf den Tisch gelegt hatte und blickte noch einmal zu mir.

"Viel Glück, Bruderherz."

Dann ließ sie mich mit dem Mann allein, der mir jetzt den Kasten zu schob und dabei seine Worte wiederholte. Dann, als der Kasten vor mir lag, griff ich wie meine Schwester nach dem Verschluss. Doch ich hielt inne. In diesem kleinen, unscheinbaren Etwas lag meine ganze Zukunft.

Ich könnte in wenigen Stunden in einer Halle stehen und Fässer von einer Seite zur anderen bringen, in einem Büro versauern oder aber das Leben der High-Society bestaunen. All das könnte passieren, doch es lag nicht in meiner Hand. Meine Zukunft wurde von anderen Leuten geregelt, denen es vollkommen gleichgültig war, ob ich mich für den Beruf interessierte oder nicht.

Ein leises Räuspern ließ mich aufblicken. Der Beamte mir gegenüber blickte mich auffordernd und auch zu teilen ungeduldig an. Also atmete ich noch einmal tief durch und öffnete die Schachtel behutsam. Darin, in dunkelroten Stoff eingebettet, lag eine Uhr. Und was für eine.

Ungläubig blickte ich auf das silberne Schmuckstück hinab. Zitternd griff ich nach der Uhr, die trotz des schlechten Lichtes zu strahlen schien. Silber. Oberschicht. Ohne darüber nachzudenken drehte ich sie um, sodass das Ziffernblatt nach unten zeigte.

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Langsam griff ich nach dem Stift, der auf dem Tisch wartete. Dann zog ich wie in Trance den kleinen Zettel heraus, der unter der Uhr auf mich wartete und schrieb die Zahlen auf den hellen Bogen. Dabei und während ich die Uhr um mein rechtes Handgelenk zog kam ich mir wie ferngesteuert vor.

Es war beinah so, als würde ich einem anderen Menschen dabei zusehen, wie er die Uhr bekam. Vollkommen in Gedanken und irgendwie benommen ließ ich mir von dem Beamten aufhelfen. Plötzlich erschien er mir um einiges zuvorkommender. War es nur meine Einbildung oder respektierte er mich?

Dann fiel mein Blick wieder auf die Uhr. Natürlich war er zuvorkommender. Ich war ab jetzt ein Oberschichtler. Doch erst als ich neben dem Beamten an meinen Eltern vorbei ging, die mich beide mehr als nur etwas überrascht, ja beinah schon geschockt anblickten, wurde es mir vollkommen bewusst.

Oberschicht. Ich. Meine Zukunft.

"Ich bin stolz auf dich, mein Sohn", flüsterte mein Vater leise als ich an ihm vorbei ging. 

Ich wollte etwas erwidern, doch der Mann zog mich weiter. Ich drehte mich ein letztes Mal zu meinen Eltern um und erblickte die beiden dicht beieinander, meine Mutter gegen meinen Vater gelehnt. Dann schloss sich die Tür zu unserem kleinen Haus und ich wurde mit sanfter Gewalt zu einem großen Auto gezogen.

Die Tür öffnete sich und der Beamte schob mich hinein. Dann schloss sich die Tür wieder und ließ mich im halbdunklen auf den weichesten Sitzen, die ich jemals gesehen geschweige denn berührt hatte, zurück.

Nur dadurch, dass sich die Häuser plötzlich vor dem Fenster bewegten konnte ich erahnen, dass wir losgefahren waren. Weg von meinen Eltern, allem, was ich gewohnt war und hinein in ein neues Leben.

Meine Eltern. Es traf mich wie ein Schlag: Ich hatte mich nicht von ihnen verabschiedet. Ich hatte ihnen nicht mehr sagen können, wie wichtig sie mir waren, wie sehr ich sie vermissen würde. Ich hatte keine Chance dazu gehabt ihnen zu versichern, dass ich sie niemals vergessen würde.

Frohes Neues Jahr!!!!!!!!!!!!!

2095 - ᴡɪᴇ ɢᴜᴛ ʙɪꜱᴛ ᴅᴜ ᴡɪʀᴋʟɪᴄʜ?Where stories live. Discover now